Erich Fromm sieht die in der letz­ten Fol­ge auf­ge­zeig­ten Ent­wick­lun­gen in eine Reli­gi­on des Indus­trie­zeit­al­ters mün­den. Er cha­rak­te­ri­siert sie folgendermassen:
Die Reli­gi­on des Indus­trie­zeit­al­ters stützt sich auf einen neu­en Gesell­schafts-Cha­rak­ter, des­sen Kern aus fol­gen­den Ele­men­ten besteht: Angst vor mäch­ti­ger männ­li­cher Auto­ri­tät und Unter­wer­fung unter die­se, Her­an­züch­tung von Schuld­ge­füh­len bei Unge­hor­sam, Auf­lö­sung der Ban­de mensch­li­cher Soli­da­ri­tät durch die Vor­herr­schaft des Eigen­nut­zes und des gegen­sei­ti­gen Antagonismus. „
Hei­lig“ sind in der Reli­gi­on des Indus­trie­zeit­al­ters die Arbeit, das Eigen­tum, der Pro­fit und die Macht, obwohl sie – in den Gren­zen ihrer all­ge­mei­nen Prin­zi­pi­en – auch den Indi­vi­dua­lis­mus und die per­sön­li­che Frei­heit för­der­ten. Durch die Umwand­lung des Chris­ten­tums in eine rein patri­ar­cha­li­sche Reli­gi­on war es mög­lich, die Reli­gi­on des Indus­trie­zeit­al­ters in christ­li­che Ter­mi­no­lo­gie zu klei­den.

Wie konn­te es zu die­ser Fehl­ent­wick­lung kom­men? Fromm sieht inter­es­san­ter­wei­se als ers­ten Grund “die Eli­mi­nie­rung des müt­ter­li­chen Ele­ments aus der Kir­che durch Luther”.
Die­se Tat­sa­che ist heu­te so selbst­ver­ständ­lich gewor­den, dass uns gar nicht mehr auf­fällt, welch radi­ka­le Ände­rung sie in unse­rem Den­ken und Füh­len in die Wege lei­te­te. Der Begriff “Gott” ist heu­te mit weni­gen Aus­nah­men gefühls­mäs­sig immer noch mit einem “männ­li­chen Wesen” kon­no­tiert. Der Begriff “Vater/­Mut­ter-Gott” ist nach wie vor gewöh­nungs­be­dürf­tig. Wer erin­nert sich noch dar­an, dass im ers­ten jüdi­schen Tem­pel in Jeru­sa­lem neben JHWH auch eine weib­li­che Gott­heit ver­ehrt wur­de? (sie­he: Rapha­el Patai, The Hebrew God­dess)

Fromm ver­weist in die­sem Zusam­men­hang auf zwei ver­schie­de­ne Aspek­te der Lie­be und deren Aus­druck in den mensch­li­chen Gesellschaften:
(Die­se)  sind ent­we­der nach dem patri­zen­tri­schen (oder patri­ar­cha­li­schen) oder dem matri­zen­tri­schen (oder matri­ar­cha­li­schen) Prin­zip organisiert.

Das matri­zen­tri­sche Prin­zip hat sein Zen­trum in der Figur der lie­ben­den Mut­ter, wie J. J. Bacho­fen und L. H. Mor­gan erst­mals gezeigt haben. Das müt­ter­li­che Prin­zip ist das der bedin­gungs­lo­sen Lie­be. (…) Mut­ter­lie­be ist Gna­de und Barm­her­zig­keit (im Hebräi­schen racha­mim, das auf rechem, „Gebär­mut­ter“, zurückgeht).
Im Gegen­satz dazu ist die väter­li­che Lie­be an Bedin­gun­gen geknüpft; (…) Die Lie­be des Vaters kann ver­lo­ren wer­den, aber sie kann auch durch Reue und erneu­te Unter­wer­fung wie­der erwor­ben wer­den. Die väter­li­che Lie­be ist Gerechtigkeit.

Die­se zwei Prin­zi­pi­en, das weib­lich-müt­ter­li­che und das männ­lich-väter­li­che, sind nicht nur ein Aus­druck der Tat­sa­che, dass jeder Mensch männ­li­che und weib­li­che Ele­men­te in sich ver­ei­nigt; sie ent­spre­chen dem Bedürf­nis jedes Men­schen nach Gna­de und Gerech­tig­keit. Die tiefs­te Sehn­sucht der Mensch­heit scheint einer Kon­stel­la­ti­on zu gel­ten, in der bei­de Pole (Müt­ter­lich­keit und Väter­lich­keit, weib­lich und männ­lich, Gna­de und Gerech­tig­keit, Füh­len und Den­ken, Natur und Intel­lekt) in einer Syn­the­se ver­ei­nigt sind, in der bei­de Pole ihren Ant­ago­nis­mus ver­lie­ren und statt­des­sen ein­an­der färben. (…)

Inter­es­sant, dass Fromm damit — ob bewusst oder unbe­wusst — auf die bei­den Sephi­ra “Che­sed” (Güte, Barm­her­zig­keit, unbe­grenz­tes Wohl­wol­len) und “Gevu­rah” (Beschrän­kung, Kraft, Gericht, Urteil) im kab­ba­lis­ti­schen Lebens­baum anspielt.

Die­sen müt­ter­li­chen Ele­men­ten der Reli­gi­on ent­sprach das Ver­hält­nis zur Natur im Pro­duk­ti­ons­pro­zess: Die Arbeit des Bau­ern wie auch des Hand­wer­kers war kein feind­se­li­ger, aus­beu­te­ri­scher Angriff auf die Natur. Sie war eine Form der Zusam­men­ar­beit mit ihr: kei­ne Ver­ge­wal­ti­gung, son­dern eine Umge­stal­tung der Natur in Ein­klang mit ihren Gesetzen.

Luther eta­blier­te in Nord­eu­ro­pa eine rein patri­ar­cha­li­sche Form des Chris­ten­tums, die sich auf den städ­ti­schen Mit­tel­stand und die welt­li­chen Fürs­ten stütz­te. Das wesent­li­che die­ses neu­en Gesell­schafts-Cha­rak­ters ist die Unter­wer­fung unter die patri­ar­cha­li­sche Auto­ri­tät, wobei Arbeit der ein­zi­ge Weg ist, um Lie­be und Aner­ken­nung zu erlan­gen.
(Man könn­te hier pro­blem­los auch die reli­giö­sen Leh­ren Cal­vins hin­zu­fü­gen. Cal­vin ging aller­dings noch wei­ter als Luther, indem er dekla­rier­te, dass “Gott” von Anfang an fest­ge­legt hat­te, wer zu den “Geret­te­ten” und den “Ver­damm­ten” gehör­te. Arbeit und tugend­haf­tes Leben lies­sen einen ledig­lich hof­fen, das rich­ti­ge Los gezo­gen zu haben …)

Hin­ter der christ­li­chen Fas­sa­de ent­stand eine neue gehei­me Reli­gi­on – die Reli­gi­on des Indus­trie­zeit­al­ters – die in der Cha­rak­ter­struk­tur der moder­nen Gesell­schaft wur­zelt, aber nicht als Reli­gi­on bekannt ist. Die Reli­gi­on des Indus­trie­zeit­al­ters ist mit ech­tem Chris­ten­tum unver­ein­bar. Sie redu­ziert die Men­schen zu Die­nern der Wirt­schaft und der Maschi­nen, die sie mit ihren eige­nen Hän­den gebaut haben.

Eine Fol­ge die­ser Ent­wick­lung war die Ent­ste­hung des “Mar­ke­ting-Cha­rak­ters”.

Dazu mehr in der nächs­ten Fol­ge am kom­men­den Frei­tag, den 8. November

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