Als der birsfaelder.li-Schreiberling vor vie­len Jahren in die Son­ntagss­chule ging, stand am Aus­gang des Zim­mers ein kleines Käs­seli mit einem schwarzen Bübchen drauf. Wenn man 20 Rap­pen hinein­warf, nick­te das Büblein dankbar. Es hiess, das Geld sei für den “Urwald­dok­tor” Albert Schweitzer in Lam­barene bes­timmt, der dort die armen Schwarzen medi­zinisch betreue.

Es dauerte dann eine ger­aume Zeit, bis sich das Bild des “Urwald­dok­tors” erweit­erte und klar wurde, dass Albert Schweitzer nicht nur Arzt, son­dern auch ein wel­berühmter Organ­ist und eben­so berühmter The­ologe war, der mit sein­er “Geschichte der Leben Jesu-Forschung” und sein­er “Ehrfurcht vor dem Leben”-Ethik neue the­ol­o­gis­che Impulse set­zte.

Erich Fromm erkan­nte in Schweitzer einen Brud­er im Geiste, weil auch der elsäs­sis­che The­ologe mit der aktuellen west­lichen Gesellschaft scharf ins Gericht ging:
Albert Schweitzer geht von der radikalen Prämisse ein­er unmit­tel­bar dro­hen­den Krise der west­lichen Kul­tur aus.Nun ist es für alle offen­bar“, erk­lärt er, „dass die Selb­stver­nich­tung der Kul­tur im Gange ist. Auch was von ihr noch ste­ht ist nicht mehr sich­er. Es hält noch aufrecht, weil es nicht dem zer­stören­den Drucke aus­ge­set­zt war, dem das andere zum Opfer fiel. Aber es ist eben­falls auf Geröll gebaut. Der näch­ste Bergrutsch kann es mit­nehmen. (…) Die Kul­tur­fähigkeit des mod­er­nen Men­schen ist her­abge­set­zt, weil die Ver­hält­nisse, in die er hineingestellt ist, ihn verklein­ern und psy­chisch schädi­gen“ 
Das schrieb Albert Schweitzer schon 1923 (!) im ersten Band sein­er “Kul­tur­philoso­phie”. Und weit­er:

Schweitzer charak­ter­isiert den Men­schen des Indus­triezeital­ters als unfrei, unge­sam­melt, unvoll­ständig, in Gefahr, ein sich „in Human­ität­slosigkeit Ver­lieren­der“ zu wer­den. Er schreibt: „Da nun noch hinzukommt, dass die Gesellschaft durch ihre aus­ge­bildete Organ­i­sa­tion eine bis­lang unbekan­nte Macht im geisti­gen Leben gewor­den ist, ist seine Unselb­ständigkeit ihr gegenüber der­art, dass er schon fast aufhört, ein geistiges Eigen­da­sein zu führen. (…) So sind wir in ein neues Mit­te­lal­ter einge­treten. Durch einen all­ge­meinen Wil­len­sakt ist die Denk­frei­heit außer Gebrauch geset­zt, weil die vie­len sich das Denken als freie Per­sön­lichkeit­en ver­sagen und sich in allem nur von der Zuge­hörigkeit zu Gemein­schaften leit­en lassen. (…) Mit der preis­gegebe­nen Unab­hängigkeit des Denkens haben wir, wie es nicht anders sein kon­nte, den Glauben an die Wahrheit ver­loren. Unser geistiges Leben ist des­or­gan­isiert. Die Überor­gan­isierung unser­er öffentlichen Zustände läuft auf ein Organ­isieren der Gedanken­losigkeit hin­aus (…)

Schweitzer kommt zu dem Schluss, dass die gegen­wär­tige kul­turelle und gesellschaftliche Ord­nung auf eine Katas­tro­phe zutreibe, aus der eine neue Renais­sance, „viel größer als die Renais­sance“, her­vorge­hen werde; und dass wir uns durch eine neue Gesin­nung und eine neue Grund­hal­tung erneuern müssen, wenn wir nicht zugrunde gehen wollen. Das Wichtig­ste an dieser Renais­sance wird das „Prinzip der Betä­ti­gung“ sein, „das uns das ratio­nale Denken in die Hand gibt“, [es] „ist das einzig ratio­nale und zweck­mäßige Prinzip des durch Men­schen zu pro­duzieren­den Geschehens“. Schweitzer schließt, indem er seinem Glauben Aus­druck gibt, „dass diese Umwälzung sich ereignen wird, wenn wir uns nur entschließen, denk­ende Men­schen zu wer­den

Fromm fasst schliesslich zusam­men:
Ver­mut­lich weil Schweitzer The­ologe war und zumin­d­est als Philosoph durch seinen Begriff der „Ehrfurcht vor dem Leben“ als Basis der Ethik am bekan­ntesten wurde, ist vielfach überse­hen wor­den, dass er ein­er der radikalsten Kri­tik­er der Indus­triege­sellschaft war und deren Mythos von Fortschritt und all­ge­meinem Glück ent­larvte. Er erkan­nte den Ver­fall der men­schlichen Gesellschaft durch die Prax­is des Indus­triezeital­ters. Schon zu Beginn dieses Jahrhun­derts sah er die Schwäche und Abhängigkeit der Men­schen, die destruk­tive Wirkung des Zwanges zur Arbeit, die Vorzüge ver­ringert­er Arbeit und ver­ringerten Kon­sums. Er pos­tulierte die Notwendigkeit ein­er Renais­sance des kollek­tiv­en Lebens, das im Geiste der Sol­i­dar­ität und der Ehrfurcht vor dem Leben organ­isiert wer­den sollte.

Im let­zten Teil seines Buchs “Haben oder Sein” kommt Fromm dann zur entschei­dend wichti­gen Frage: Was sind die Voraus­set­zun­gen, die einen Wan­del des men­schlichen Denkens und Han­delns vom “Haben” zum “Sein” bre­it­flächig möglich machen?

Dazu mehr in der näch­sten Folge am 4. Okto­ber.

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