Eine kleine Quizfrage: Welcher Philosoph hat folgende Aussagen gemacht?
„Je weniger du bist, je weniger du dein Leben äußerst, umso mehr hast du, umso größer ist dein entäußertes Leben. (…) Alles, was dir der Nationalökonom an Leben nimmt und an Menschheit, das alles ersetzt er dir in Geld und Reichtum.”
“Setze den Menschen als Menschen und sein Verhältnis zur Welt als ein menschliches voraus, so kannst du Liebe nur gegen Liebe austauschen, Vertrauen nur gegen Vertrauen etc. Wenn du die Kunst genießen willst, musst du ein künstlerisch gebildeter Mensch sein; wenn du Einfluss auf andere Menschen ausüben willst, musst du ein wirklich anregend und fördernd auf andre Menschen wirkender Mensch sein. Jedes deiner Verhältnisse zum Menschen – und zu der Natur – muss eine bestimmte, dem Gegenstand deines Willens entsprechende Äußerung deines wirklichen individuellen Lebens sein.”
Wer den letzten birsfaelder.li-Beitrag noch in Erinnerung hat, wird die Antwort schon erraten haben: Es war Karl Marx. Aber nicht der Karl Marx, den wir heute automatisch mit all den katastrophalen Fehlentwicklungen verbinden, die wir “real existierenden Sozialismus” nennen, die dank Stalin, Mao oder Pol Pot unendliches Leid verursacht haben und die im Namen des Sozialismus die menschliche Freiheit knebelten.
Erich Fromm hat sich mit Karl Marx intensiv auseinandergesetzt und kam zum Schluss: … Marx’ Ideen wurden bald pervertiert, vielleicht weil er hundert Jahre zu früh lebte.
Marx’ erster Schritt war, der Arbeiterklasse seiner Zeit, der, wie er glaubte, am meisten entfremdeten und elenden Klasse, bewusst zu machen, dass sie litt. Er versuchte, die Illusionen zu zerstören, die den Arbeitern das Elend ihrer eigenen Lage verschleierten. Sein zweiter Schritt war, ihnen die Ursachen ihres Leidens klarzumachen, die seiner Ansicht nach im Wesen des Kapitalismus und in der von ihm hervorgebrachten Charakterstruktur von Habgier, Geiz und Abhängigkeit begründet lagen. Diese Analyse der Ursachen des Leidens der Arbeiter (aber nicht allein ihres Leidens) war ein Teil dessen, was Marx als seine Hauptaufgabe ansah, die Analyse der kapitalistischen Wirtschaft.
Sein dritter Schritt bestand darin, den Menschen zu zeigen, dass man dem Leiden ein Ende bereiten könnte, indem man seine Ursachen beseitigte. Im vierten Schritt stellte er die Prinzipien der neuen Lebenspraxis dar, die die Menschen von dem Elend befreien sollte, welches die alte Gesellschaft zwangsläufig hervorbrachte. (…)
In den Ökonomisch-Philosophischen Manuskripten schrieb Marx, „die freie, bewusste Tätigkeit“ sei der „Gattungscharakter des Menschen“. Die Arbeit repräsentiert für ihn menschliches Tätigsein, und menschliches Tätigsein ist Leben. … Das Kapital repräsentiert dagegen für Marx das Angehäufte, das Vergangene und in letzter Konsequenz das Tote. Man kann die affektive Brisanz, die der Kampf zwischen Arbeit und Kapital für Marx hatte, nicht voll verstehen, wenn man sich nicht vor Augen hält, dass es für ihn der Kampf zwischen Lebendigsein und Totsein, Gegenwart und Vergangenheit, Menschen und Dingen, Sein und Haben war.
Für Marx lautete die Frage: Wer soll über wen herrschen? Soll das Leben das Tote, oder soll das Tote das Leben beherrschen? Der Sozialismus stellte für ihn eine Gesellschaft dar, in der das Leben über das Tote gesiegt hatte. Marx’ ganze Kritik am Kapitalismus und seine Vision vom Sozialismus wurzelt in der Überzeugung, dass menschliche „Selbsttätigkeit“ im kapitalistischen System gelähmt ist, und dass das Ziel darin besteht, dem Menschen seine volle Menschlichkeit wiederzugeben, indem man diese Selbsttätigkeit in allen Bereichen des Lebens wiederherstellt.
Trotz einiger Formulierungen, die nur aus der Zeit heraus verstanden werden können, besonders was den Einfluss der klassischen Ökonomien betrifft, ist das Klischee, dass Marx ein Determinist gewesen sei, der die Menschen zu passiven Objekten der Geschichte und der Wirtschaft stempelte und sie ihrer Aktivität beraubte, das genaue Gegenteil seiner Überzeugungen, wie jeder bestätigen wird, der mehr von Marx gelesen hat als einige aus dem Zusammenhang gerissene Sätze. Marx’ Ansichten könnten nicht klarer formuliert werden als in seiner eigenen Feststellung (in Die heilige Familie), wenn er schreibt: Die Geschichte tut nichts, sie „besitzt keinen ungeheuren Reichtum“, sie „kämpft keine Kämpfe“! Es ist vielmehr der Mensch, der wirkliche, lebendige Mensch, der das alles tut, besitzt und kämpft; es ist nicht etwa die „Geschichte“, die den Menschen zum Mittel braucht, um ihre – als ob sie eine aparte Person wäre – Zwecke durchzuarbeiten, sondern sie ist nichts als die Tätigkeit des seine Zwecke verfolgenden Menschen.
Es ging Marx also nicht darum, die ausgebeutete proletarische Klasse einfach auf eine neue Stufe des Habens zu stellen, sondern mit der Zerschlagung des Kapitalismus eine neue Gesellschaftstruktur zu etablieren, in welcher der Mensch seine Entfremdung überwinden und zu einer neuen Daseinsweise des lebendigen, wahrhaften Seins gelangen kann.
Eine ähnlich radikale Analyse der kapitalistischen Gesellschaft unternahmen auch zwei Theologen: Leonhard Ragaz und Albert Schweitzer. Eine Einführung in das Denken von Ragaz findet sich auf dem birsfaelder.li. Albert Schweitzer wenden wir uns in der nächsten Folge am kommenden Freitag, den 27. September zu.
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