Die Angst und Unsicherheit, die durch die Gefahr entsteht, zu verlieren, was man hat, gibt es in der Existenzweise des Seins nicht. Wenn ich bin, der ich bin und nicht, was ich habe, kann mich niemand berauben oder meine Sicherheit und mein Identitätsgefühl bedrohen. Mein Zentrum ist in mir selbst – die Fähigkeit zu sein und meine mir eigenen Kräfte auszudrücken, ist Teil meiner Charakterstruktur und hängt von mir ab.
Tönt gut, was Erich Fromm hier festhält — der springende Punkt ist allerdings, dieses “Zentrum in mir selbst” tatsächlich auch erleben zu können. Der Weg von unserem Ego dominierten “Haben-Modus” zum “Seins-Modus”, in dem wir in uns selbst ruhen und aus diesem tieferen “Selbst” heraus frei handeln, kann ganz schön lange und steinig sein, weil das Ego keine Lust hat, seine Dominanz abzugeben. Wenn es aber gelingt, sich immer mehr im “Seins-Modus” zu verankern, kann man erleben, was Erich Fromm beschreibt:
Während beim Haben das, was man hat, sich durch Gebrauch verringert, nimmt das Sein durch die Praxis zu. (Der „brennende Dornbusch“, der sich nicht verzehrt, ist das biblische Symbol für dieses Paradox.) Die Kräfte der Vernunft, der Liebe, des künstlerischen und intellektuellen Schaffens – alle wesenseigenen Kräfte wachsen, indem man sie ausübt. Was man gibt, verliert man nicht, sondern im Gegenteil, man verliert, was man festhält. In der Existenzweise des Seins liegt die einzige Bedrohung meiner Sicherheit in mir selbst: im mangelnden Glauben an das Leben und an meine produktiven Kräfte, in regressiven Tendenzen, in innerer Faulheit, in der Bereitschaft, andere über mein Leben bestimmen zu lassen. Aber diese Gefahren gehören nicht notwendig zum Sein, wohingegen die Gefahr des Verlustes dem Haben innewohnt.
Der berühmte amerikanische Mythologie-Forscher Joseph Campbell, der vor allem durch seine Entdeckung des “Heldenreise”-Monomythos” bekannt wurde, fasste seine Regel für ein gutes und erfülltes Leben im unscheinbaren Sätzchen “Follow your bliss!” zusammen. Nicht ganz einfach zu übersetzen: Sowohl “Folge deinem Glück” oder “Mach das, was dir Spass macht” trifft es. Er definierte dessen Bedeutung so:
Seiner Glückseligkeit zu folgen ist eine Metapher für einen Prozess, der mit einer Reise, einer Suche beginnt, um herauszufinden, was dich in deinem Leben am meisten erfüllt: die Suche nach dem Heiligen Gral, dem, was dem Leben Sinn und Zweck verleiht. Meine Glückseligkeit ist nicht deine Glückseligkeit; ich muss meine Glückseligkeit selbst entdecken, indem ich auf mich selbst höre und Hinweisen folge, die der höhere Teil meines Wesens mich spüren lässt.
Campbell ist ein Paradebeispiel für jemanden, der tief im “Seins-Modus” lebte. Wenige Monate vor seinem Tod fragte ihn ein Interviewer:
Haben Sie jemals das Gefühl, dass Ihnen… von verborgenen Händen geholfen wird?
Die Antwort von Cambell: Ständig. Es ist ein Wunder. Ich habe sogar einen Glaubenssatz, der sich in mir entwickelt hat, weil die unsichtbaren Hände die ganze Zeit kommen — nämlich, dass, wenn du deiner Glückseligkeit folgst, du dich auf eine Art Schiene stellst, die schon die ganze Zeit da war und auf dich gewartet hat, und dass das Leben, das du leben solltest, das ist, das du gerade lebst.
Wenn du das erkennst, triffst du Menschen, die in deinem Glücksbereich sind, und sie öffnen dir Türen. Ich sage, folge deiner Glückseligkeit und habe keine Angst, und es werden sich Türen öffnen, von denen du nicht wusstest, dass es sie geben würde.
Das ist ein ganz entscheidender Punkt: Wem es gelingt, sich mehr und mehr im “Seins-Modus” zu verankern, beginnt zu fühlen, dass er “von innen” getragen wird und ständig neue Kräfte schöpfen kann. Sein Umfeld beginnt sich zu harmonisieren.
Im “Haben-Modus” geht es in die andere Richtung:
Das Verhältnis zwischen den Menschen ist in der Existenzweise des Habens durch Rivalität, Antagonismus und Furcht gekennzeichnet. Das antagonistische Element bei Beziehungen, die am Haben orientiert sind, liegt in der Eigenart des Habens selbst begründet: Wenn Haben die Basis meines Identitätsgefühls ist, weil „ich bin, was ich habe“, dann muss der Wunsch zu haben zum Verlangen führen, viel, mehr, am meisten zu haben. Mit anderen Worten, Habgier ist die natürliche Folge der Orientierung am Haben.
Mehr zur Habgier in der nächsten Folge am kommenden Freitag, den 30. August
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