Im Anschluss an die inter­es­sante Analyse, wie wir in der Regel unser Welt­bild zusam­men­z­im­mern, geht Erich Fromm der Frage nach, welchem Bild des Men­schen wir in unser­er west­lichen Gesellschaft mehrheitlich huldigen. Wie entschei­dend sich solche Bilder auf unser täglich­es Ver­hal­ten auswirken kön­nen, hat vor weni­gen Jahren der hol­ländis­che His­torik­er und Aktivist Rut­ger Breg­man in seinem höchst lesenswerten Best­seller “Im Grunde gut. Eine neue  Geschichte der Men­schheit” ein­drück­lich aufgezeigt. In seinem Buch räumt er mit vie­len Mythen von der ange­bore­nen Schlechtigkeit und dem Ego­is­mus des homo sapi­ens auf.

Erich Fromm: In der mod­er­nen Gesellschaft wird davon aus­ge­gan­gen, dass die Exis­ten­zweise des Habens in der men­schlichen Natur ver­wurzelt und daher prak­tisch unverän­der­bar sei. Die gle­iche Idee liegt dem Dog­ma zugrunde, der Men­sch sei von Natur aus faul und pas­siv und würde wed­er arbeit­en noch son­st etwas tun, wenn ihn nicht materielle Anreize dazu ver­lock­ten bzw. Hunger oder die Angst vor Strafe ihn dazu antrieben. Dieses Dog­ma wird all­ge­mein akzep­tiert, und es bes­timmt unsere Erziehungs- und unsere Arbeitsmeth­o­d­en.

Aber dann hält auch Fromm fest, dass dieses Men­schen­bild einen ganz bes­timmten Zweck hat: … es ist wenig mehr als ein Aus­druck des Wun­sches, den Wert unser­er gesellschaftlichen Arrange­ments zu beweisen, indem man ihnen bescheinigt, dass sie den Bedürfnis­sen der men­schlichen Natur entsprechen. Den Ange­höri­gen viel­er ver­schieden­er Kul­turen der Ver­gan­gen­heit und der Gegen­wart würde die The­o­rie von der ange­bore­nen men­schlichen Selb­st­sucht und Faul­heit eben­so phan­tastisch erscheinen wie dessen Gegen­teil uns.

Die Wahrheit ist, dass sowohl die Exis­ten­zweise des Habens wie die des Seins Möglichkeit­en inner­halb der men­schlichen Natur sind, dass unser biol­o­gis­ch­er Selb­ster­hal­tungstrieb die Exis­ten­zweise des Habens zwar ver­stärkt, dass aber Ego­is­mus und Faul­heit nicht die einzi­gen dem Men­schen inhärenten Nei­gun­gen sind.
Wir Men­schen haben ein ange­borenes, tief ver­wurzeltes Ver­lan­gen zu sein: unseren Fähigkeit­en Aus­druck zu geben, tätig zu sein, auf andere bezo­gen zu sein, dem Kerk­er der Selb­st­sucht zu ent­fliehen.

Diese Ein­sicht unter­mauert er mit ein­er ganzen Rei­he von Beobach­tun­gen und Erken­nt­nis­sen. Hier eine kleine Auswahl:
Unter­suchun­gen tierischen Ver­hal­tens zeigen, dass viele Tier­arten schwierige Auf­gaben gerne übernehmen, selb­st wenn keine materiellen Beloh­nun­gen ange­boten wer­den.
Unter­suchun­gen frühkindlichen Ver­hal­tens zeigen die Fähigkeit und das Bedürf­nis klein­er Kinder, aktiv auf kom­plexe Reize zu reagieren, — und nicht, wie Freud pos­tulierte, sich gegen als Bedro­hung emp­fun­dene äussere Reize abzuschir­men.
Kinder und Jugendliche entwick­eln erstaunliche Ini­tia­tiv­en, wenn ihnen der Lern­stoff nicht auf trock­ene und und unlebendi­ge Weise ver­mit­telt, son­dern auf anre­gende Weise darge­boten wird. Sir Ken Robin­son schildert  in einem sein­er Büch­er die ein­drück­liche Geschichte von “Drop outs” und Lern­ver­weiger­ern an ein­er amerikanis­chen Staatss­chule, die sich sich in lern­be­gierige und enthu­si­astis­che “Tüftler” ver­wan­del­ten, als sie an einem Pro­jekt teil­nehmen kon­nten, von Grund auf ein eigenes Solar­mo­bil zu bauen.
Ähn­liche Erfahrun­gen macht­en und machen Fir­men, die ihren Angestellten/Arbeitern mehr Freiraum ein­räu­men, eigene Ini­tia­tiv­en im Arbeit­sprozess einzubrin­gen.

Und nicht zulet­zt ver­weist Fromm auf Erfahrun­gen aus dem Zweit­en Weltkrieg:
Als Churchill zu Beginn des Zweit­en Weltkriegs von den Englän­dern „Blut, Schweiß und Trä­nen“ forderte, hat er sie damit nicht abgeschreckt, son­dern im Gegen­teil an ihr tief eingewurzeltes men­schlich­es Ver­lan­gen appel­liert, Opfer zu brin­gen und der Gemein­schaft etwas zu geben. Die Reak­tion der Briten – und auch der Deutschen und der Russen – auf die wahllosen Bom­barde­ments der Städte während des Krieges zeigt, dass die Bevölkerung durch gemein­same Lei­den nicht mut­los wurde; diese Lei­den stärk­ten im Gegen­teil die Entschlossen­heit der Ange­grif­f­e­nen zum Wider­stand und wider­legten jene, die glaubten, die Kampf­bere­itschaft des Fein­des könne durch Ter­ro­ran­griffe gebrochen und der Krieg dadurch rasch­er been­det wer­den.

Aber er ergänzt:
Es ist jedoch ein trau­riger Kom­men­tar zu unser­er Zivil­i­sa­tion, dass Krieg und Lei­den eher imstande sind, die men­schliche Opfer­bere­itschaft zu mobil­isieren als ein friedlich­es Leben und dass in Frieden­szeit­en vor allem die Selb­st­sucht zu gedei­hen scheint. Zum Glück gibt es aber auch im Frieden Sit­u­a­tio­nen, in denen sich die men­schliche Fähigkeit zu Selb­st­losigkeit und Sol­i­dar­ität im indi­vidu­ellen Ver­hal­ten aus­drückt. (…)

Das Bedürf­nis zu geben und zu teilen, und die Bere­itschaft, für andere Opfer zu brin­gen, sind unter den Ange­höri­gen bes­timmter sozialer Berufe, wie Kranken­schwest­ern, Ärzte, Mönche und Non­nen, immer noch zu find­en. Zwar leis­ten viele, wenn nicht die meis­ten Vertreter dieser Berufe dem Ethos des Helfens und Opferns nur Lip­pen­di­en­ste; den­noch ste­ht der Charak­ter ein­er nicht unbe­trächtlichen Zahl in Ein­klang mit den Werten, zu denen sie sich beken­nen. Viele religiöse bzw. sozial­is­tisch oder human­is­tisch ori­en­tierte Gemein­schaften, die im Laufe der Jahrhun­derte ent­standen, haben die gle­ichen Bedürfnisse bekräftigt und zum Aus­druck gebracht. Der Wun­sch zu geben motiviert alle jene, die ohne Vergü­tung ihr Blut spenden; ähn­lich selb­st­los ist das Ver­hal­ten von Men­schen, die ihr Leben riskieren, um das Leben ander­er zu ret­ten. Die Bere­itschaft zu schenken man­i­festiert sich in jedem, der wirk­lich liebt. „Falsche Liebe“, das heißt Ego­is­mus zu zweit, macht die Men­schen noch selb­st­süchtiger (und das ist oft genug der Fall). Wahre Liebe ver­mehrt die Fähigkeit zu lieben und anderen etwas zu geben.

Fort­set­zung am kom­menden Fre­itag, den 9. August

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