Unse­re bewuss­ten Moti­va­tio­nen, Ideen und Über­zeu­gun­gen sind eine Mischung aus fal­schen Infor­ma­tio­nen, Vor­ur­tei­len, irra­tio­na­len Lei­den­schaf­ten, Ratio­na­li­sie­run­gen und Vor­ein­ge­nom­men­heit, in der eini­ge Bro­cken Wahr­heit schwim­men, die uns die (frei­lich fal­sche) Gewiss­heit geben, dass die gan­ze Mischung real und wahr sei, hielt Erich Fromm in der letz­ten Fol­ge fest.

Wenn das stimmt, stellt sich die Fra­ge, ob wir über­haupt eine Chan­ce haben, in die­sem Wust bis zu den “Bro­cken Wahr­heit” vor­zu­stos­sen, resp. sie über­haupt zu erken­nen. Fromm gibt eine über­ra­schen­de Antwort:
Wenn wir behaup­ten, die Wahr­heit wer­de ver­drängt, dann gehen wir natür­lich von der Vor­aus­set­zung aus, dass wir die Wahr­heit wis­sen und die­ses Wis­sen ver­drän­gen; mit ande­ren Wor­ten, dass wir über „unbe­wuss­tes Wis­sen“ verfügen.
Mei­ne psy­cho­ana­ly­ti­schen Erfah­run­gen — sowohl in Bezug auf ande­re als auch auf mich selbst — zei­gen mir, dass dies in der Tat zutrifft. Wir neh­men die Rea­li­tät wahr, ob wir wol­len oder nicht. Eben­so wie unse­re Sin­ne so orga­ni­siert sind, dass sie mit Seh‑, Hör‑, Geruchs- und Tast­emp­fin­dun­gen reagie­ren, wenn sie mit der Rea­li­tät kon­fron­tiert wer­den, so ist auch unse­re Ver­nunft so orga­ni­siert, dass sie die Rea­li­tät erkennt, das heißt die Din­ge so sieht, wie sie wirk­lich sind, kurz, dass sie die Wahr­heit erfasst.

Hier kommt jenes Wis­sen ins Spiel, das in der Regel als “Intui­ti­on” defi­niert wird: Ein inne­res Erken­nen, eine inne­re Gewiss­heit, jen­seits von unse­ren “ratio­na­len” Gedan­ken­gän­gen. Frommt nennt es “kon­zen­trier­tes Sehen”:
Wir wis­sen es, wenn wir einem gefähr­li­chen Men­schen begeg­nen oder einem Men­schen, dem wir voll ver­trau­en kön­nen. Wir wis­sen es, wenn wir belo­gen oder aus­ge­beu­tet oder zum Nar­ren gehal­ten wer­den, wenn wir uns selbst in die Tasche gelo­gen haben. Wir wis­sen fast alles Wesent­li­che über das mensch­li­che Ver­hal­ten, so wie unse­re Vor­fah­ren erstaun­lich viel über die Bah­nen der Gestir­ne wuss­ten. Doch wäh­rend sie sich ihres Wis­sens bewusst waren und es anwand­ten, ver­drän­gen wir unser Wis­sen sofort, denn wenn es bewusst blie­be, wür­de unser Leben zu schwie­rig wer­den und – so reden wir uns ein – zu „gefähr­lich“ sein.

Wenn wir sol­che intui­ti­ven Erkennt­nis­se oft nicht wahr­ha­ben wol­len, weil sie viel­leicht unse­re Über­zeu­gun­gen in Fra­ge stel­len oder mit Angst ver­bun­den sind, mel­den sie sich gemäss Fromm manch­mal als “Traum­bot­schaft” zurück. In sei­nem Buch “Mär­chen, Mythen, Träu­me. Eine Ein­füh­rung in das Ver­ständ­nis einer ver­ges­se­nen Spra­che” schil­dert er eine Rei­he sol­cher Träu­me, z.B. von einem Unter­neh­mer, der einen äus­ser­lich ver­trau­ens­wür­di­gen Mann in die Geschäfts­füh­rung holen woll­te. Dar­auf­hin träum­te er, dass der zukünf­ti­ge Geschäfts­part­ner gros­se Sum­men ver­un­treu­te. Er schob die Traum­war­nung bei­sei­te, nur um Jah­re spä­ter zu erken­nen, dass sein Traum die Wahr­heit auf­ge­zeigt hatte.

Ein wei­te­res Bei­spiel sind die Ein­sich­ten, die uns einen Men­schen plötz­lich in völ­lig ande­rem Licht erschei­nen las­sen als bis­her, wobei wir das Gefühl haben, als hät­ten wir dies im Grun­de schon längst gewusst. Zeug­nis­se fin­den wir auch in den Phä­no­me­nen des Wider­stan­des, wenn die schmerz­haf­te Wahr­heit ans Licht zu kom­men droht: in Ver­spre­chern, in unge­schick­ten For­mu­lie­run­gen, im Zustand der Trance oder in Augen­bli­cken, wenn jemand etwas gleich­sam neben­bei sagt, das allem wider­spricht, was er immer zu glau­ben behaup­te­te, und die­se Bemer­kung im nächs­ten Augen­blick ver­ges­sen zu haben scheint. In der Tat ver­wen­den wir einen gro­ßen Teil unse­rer Ener­gie dar­auf, vor uns selbst zu ver­ber­gen, was wir wis­sen; das Aus­maß die­ses ver­dräng­ten Wis­sens ist kaum zu überschätzen.

Unser Auf­trag besteht also dar­in, Schritt um Schritt, das, was wirk­lich ist, freizulegen:
Das Sein bezieht sich auf das wirk­li­che im Gegen­satz zum ver­fäl­schen­den, illu­sio­nä­ren Bild. In die­sem Sinn bedeu­tet jeder Ver­such, den Bereich des Seins aus­zu­wei­ten, ver­mehr­te Ein­sicht in die Rea­li­tät des eige­nen Selbst, der ande­ren und unse­rer Umwelt. … Zum Sein gelangt man, wenn man durch die Ober­flä­che dringt und die Wirk­lich­keit erfasst.

Fort­set­zung am kom­men­den Frei­tag, den 19. Juli

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