Inter­es­san­ter­weise bringt Erich Fromm als Beispiel für “pro­duk­tives Tätig­sein” etwas, das wir heute eher mit “Pas­siv Sein” assozi­ieren wür­den:
… ander­er­seits kann der Prozess, der in einem Men­schen vor sich geht, der sich sein­er selb­st zutief­st bewusst ist, oder der einen Baum wirk­lich „sieht“, statt ihn bloß anzuschauen, oder der ein Gedicht liest und die Gefüh­le nachempfind­et, die der Dichter in Worten aus­ge­drückt hat, pro­duk­tiv sein, obwohl nichts „geschaf­fen“ wird. Pro­duk­tives Tätig­sein beze­ich­net den Zus­tand inner­er Aktiv­ität … Der pro­duk­tive Men­sch erweckt alles zum Leben, was er berührt. Er gibt seinen eige­nen Fähigkeit­en Leben und schenkt anderen Men­schen und Din­gen Leben.

Wenn wir also in Ruhe die Kraft und die Majestät ein­er Eiche bewun­dern und uns von ihr inner­lich berühren lassen, sind wir äusser­lich pas­siv, aber inner­lich aktiv. Pas­siv­sein im Seins-Modus ist bewusste, lebendi­ge Aktiv­ität.

Deshalb hält Fromm zu Recht fest:
Sowohl „Aktiv­ität“ als auch „Pas­siv­ität“ kön­nen zwei völ­lig ver­schiedene Bedeu­tun­gen haben. Ent­fremdete Aktiv­ität im Sinne bloßer Geschäftigkeit ist in Wirk­lichkeit „Pas­siv­ität“, das heißt Unpro­duk­tiv­ität. Hinge­gen kann Pas­siv­ität im Sinne von Nicht­geschäftigkeit nich­t­ent­fremdete Aktiv­ität sein. Dies ist heute so schw­er zu ver­ste­hen, weil die meis­ten Arten von Aktiv­ität ent­fremdete „Pas­siv­ität“ sind, während pro­duk­tive Pas­siv­ität sel­ten erlebt wird.

In einem kleinen geschichtlichen Exkurs zeigt er auf, dass grosse Philosophen wie Aris­tote­les und Spin­oza,  grosse The­olo­gen wie Meis­ter Eck­hart Thomas von Aquin genau diese pro­duk­tive Pas­siv­ität, z.B. in Form des kon­tem­pla­tiv­en Lebens, als höchst wün­schenswerte Leben­shal­tung betra­chteten.

Spin­ozas Auf­fas­sung von Aktiv­ität und Pas­siv­ität ist eine über­aus radikale Kri­tik an der Indus­triege­sellschaft. Im Gegen­satz zur heute herrschen­den Überzeu­gung, dass Men­schen, die in erster Lin­ie von der Gier nach Geld, Besitz und Ruhm angetrieben wer­den, nor­mal und angepasst seien, hält Spin­oza sie für äußerst pas­siv und im Grunde krank. Der aktive Men­schen­typ in Spin­ozas Sinn, den er selb­st verkör­perte, ist inzwis­chen zur Aus­nahme gewor­den und wird häu­fig verdächtigt, „neu­ro­tisch“ zu sein, da er so wenig an soge­nan­nte nor­male „Aktiv­ität“ angepasst ist.

Das sah der heute angesichts des total­en Ver­sagens des “real existieren­den Sozial­is­mus” eher in die poli­tis­che “Schmud­d­elecke” geschobene Karl Marx inter­es­san­ter­weise ganz ähn­lich:

In den Ökonomisch-Philosophis­chen Manuskripten schrieb Marx, „die freie, bewusste Tätigkeit“ sei der „Gat­tungscharak­ter des Men­schen“ … Die Arbeit repräsen­tiert für ihn men­schlich­es Tätig­sein, und men­schlich­es Tätig­sein ist Leben.

Das Kap­i­tal repräsen­tiert dage­gen für Marx das Ange­häufte, das Ver­gan­gene und in let­zter Kon­se­quenz das Tote .… Man kann die affek­tive Brisanz, die der Kampf zwis­chen Arbeit und Kap­i­tal für Marx hat­te, nicht voll ver­ste­hen, wenn man sich nicht vor Augen hält, dass es für ihn der Kampf zwis­chen Lebendig­sein und Tot­sein, Gegen­wart und Ver­gan­gen­heit, Men­schen und Din­gen, Sein und Haben war. Für Marx lautete die Frage: Wer soll über wen herrschen? Soll das Leben das Tote, oder soll das Tote das Leben beherrschen? Der Sozial­is­mus stellte für ihn eine Gesellschaft dar, in der das Leben über das Tote gesiegt hat­te. Marx’ ganze Kri­tik am Kap­i­tal­is­mus und seine Vision vom Sozial­is­mus wurzelt in der Überzeu­gung, dass men­schliche „Selb­st­tätigkeit“ im kap­i­tal­is­tis­chen Sys­tem gelähmt ist, und dass das Ziel darin beste­ht, dem Men­schen seine volle Men­schlichkeit wiederzugeben, indem man diese Selb­st­tätigkeit in allen Bere­ichen des Lebens wieder­her­stellt.

Im näch­sten Kapi­tel “Sein als Wirk­lichkeit” stellt Fromm das “Sein” nicht dem “Haben” gegenüber, son­dern dem “Schein”. Dazu mehr in der näch­sten Folge am kom­menden Fre­itag, den 5. Juli

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