Erich Fromm wift in der Diskussion um die Frage nach der richtigen Einstellung zum Besitz eine interessante Frage auf: Ist die Alternative zum “Haben” (wollen) die Askese, also der radikale Verzicht auf Besitz?
Abgesehen davon, dass er das das charakterbedingte “Haben” (wollen) vom durchaus notwendigen “funktionalen Haben” für die Befriedigung unserer Grundbedürfnisse unterscheidet, verweist er auf die Gefahr, die mit dem intensiven Streben nach Askese verbunden ist:
Die Askese mit ihrem ständigen Kreisen um Verzicht und Entsagen ist möglicherweise nur die Kehrseite eines heftigen Verlangens nach Besitz und Konsum. Der Asket mag diese Wünsche verdrängt haben, aber faktisch beschäftigt er sich gerade durch sein Bestreben, Besitz und Konsum zu unterdrücken, unausgesetzt mit diesen. Solches Leugnen durch Überkompensieren ist, wie die psychoanalytischen Erfahrungen zeigen, sehr häufig. Als Beispiele könnte man fanatische Vegetarier anführen, die destruktive Impulse verdrängen; fanatische Abtreibungsgegner, die ihre Mordgelüste verdrängen; sowie Tugendfanatiker, die ihre eigenen „sündigen“ Neigungen nicht wahrhaben wollen. Es kommt dabei weniger auf die jeweiligen Überzeugungen an als auf den Fanatismus, mit dem sie vertreten werden. Jeder Fanatismus legt den Verdacht nahe, dass er dazu dient, andere, und gewöhnlich die entgegengesetzten Impulse zu verdecken.
Es geht also weniger um äusserliches Verhalten, als um eine neue Existenzweise: “Die Existenzweise des Seins”, der Titel des wohl wichtigsten Kapitels in seinem Buch “Haben oder Sein”. Darin macht er die zentrale Aussage:
Haben bezieht sich auf Dinge, und Dinge sind konkret und beschreibbar. Sein bezieht sich auf Erlebnisse, und diese sind im Prinzip nicht beschreibbar.
Durchaus beschreibbar ist die Persona, die Maske, die wir alle tragen, das Ich, das wir vorgeben, denn diese Persona ist selbst ein Ding. Aber im Gegensatz dazu ist der lebendige Mensch kein totes Bildwerk und kann nicht wie ein Ding beschrieben werden. Eigentlich kann man ihn überhaupt – nicht beschreiben. Freilich kann viel über mich ausgesagt werden, über meinen Charakter, meine ganze Lebenseinstellung. Diese Einsichten können viel zum Verständnis meiner eigenen psychischen Struktur und der anderer beitragen. Aber mein gesamtes Ich, meine Individualität in allen ihren Ausformungen, mein So-Sein, das so einmalig ist wie meine Fingerabdrücke, ist niemals vollkommen erfassbar, nicht einmal auf dem Wege der Einfühlung, denn es gibt keine zwei Menschen, die vollkommen identisch sind. Nur durch den Prozess lebendigen Aufeinander-Bezogenseins überwinden der andere und ich die Schranken unseres Getrenntseins, solange wir beide am Tanz des Lebens teilnehmen.
Dann folgt gleich eine weitere zentrale Aussage:
Die Voraussetzungen für die Existenzweise des Seins sind Unabhängigkeit, Freiheit und das Vorhandensein kritischer Vernunft.
Ihr wesentlichstes Merkmal ist die Aktivität, nicht im Sinne von Geschäftigkeit, sondern im Sinne eines inneren Tätigseins, dem produktiven Gebrauch der menschlichen Kräfte. Tätigsein heißt, seinen Anlagen, seinen Talenten, dem Reichtum menschlicher Gaben Ausdruck zu verleihen, mit denen jeder – wenn auch in verschiedenem Maß – ausgestattet ist. Es bedeutet, sich selbst zu erneuern, zu wachsen, sich zu verströmen, zu lieben, das Gefängnis des eigenen isolierten Ichs zu transzendieren, sich zu interessieren, zu lauschen, zu geben. [29] Keine dieser Erfahrungen ist jedoch vollständig in Worten wiederzugeben. Worte sind Gefäße, die wir mit Erlebnissen füllen, doch diese quellen über das Gefäß hinaus. Worte weisen auf Erleben hin, sie sind nicht mit diesem identisch.
In dem Augenblick, in dem ich ein Erleben vollständig in Gedanken und Worte umsetze, verflüchtigt es sich; es verdorrt, ist tot, wird zum bloßen Gedanken. Daher ist Sein nicht mit Worten beschreibbar und nur durch gemeinsames Erleben kommunikabel.
In der Existenzweise des Habens herrscht das tote Wort, in der des Seins die lebendige Erfahrung, für die es keinen Ausdruck gibt.
Man kann diese Einsicht durchaus auch auf die religiösen Dogmen anwenden. Sie gehören allzu oft zu den “toten Worten”, — und sie haben über Jahrhunderte Tod und Verderben gesät. Vielleicht noch interessanter, auch auf die aktuellen politischen Prozesse und Konflikte: Wir sind uns gewohnt, Ländernamen — USA, Russland, Israel, EU, Schweiz — im “Haben”-Modus als fixe Etiketten, als Worte im Sinne von statischen Gebilden zu begreifen. Im “Sein”-Modus würden sie für dynamische Prozesse stehen, die entweder in den Untergang oder in eine lichtere Zukunft führen …
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