Mit den fol­gen­den Aus­führun­gen knüpft Erich Fromm an Über­legun­gen und Beobach­tun­gen an, die auch Aldous Hux­ley machte: die Gefahr — und lei­der oft Tat­sache — von Manip­u­la­tion in unserem Leben. Während sich Hux­ley mehr mit manip­u­la­tiv­en Prak­tiken bei Erwach­se­nen auseinan­der­set­zte, verortete Fromm sie schon in der Kind­heit:

Eingeschränkt wird die freie, spon­tane Wil­len­säußerung des Säuglings, des Kindes, des Jugendlichen und schließlich des Erwach­se­nen, sein Ver­lan­gen nach Wis­sen und Wahrheit, sein Wun­sch nach Zunei­gung. Der im Wach­s­tum begrif­f­ene Men­sch wird gezwun­gen, die meis­ten sein­er autonomen, echt­en Wün­sche und Inter­essen und seinen eige­nen Willen aufzugeben und einen Willen, Wün­sche und Gefüh­le anzunehmen, die nicht aus ihm selb­st kom­men, son­dern ihm durch die gesellschaftlichen Denk- und Gefühlsmuster auf­genötigt wer­den. Die Gesellschaft und die Fam­i­lie als deren psy­chosoziale „Agen­tur“ haben ein schwieriges Prob­lem zu lösen: Wie breche ich den Willen eines Men­schen, ohne dass dieser es merkt? Durch einen kom­plizierten Prozess der Indok­tri­na­tion, durch ein Sys­tem von Beloh­nun­gen, Strafen und entsprechen­der Ide­olo­gie wird diese Auf­gabe im Großen und Ganzen jedoch so gut gelöst, dass die meis­ten Men­schen glauben, ihrem eige­nen Willen zu fol­gen, ohne sich bewusst zu sein, dass dieser kon­di­tion­iert und manip­uliert wurde.

Wie inten­siv solche Prozesse ablaufen, ist sich­er von Fam­i­lie zu Fam­i­lie ver­schieden. Aber seine Analyse trifft sich mit den Beobach­tun­gen von Alice Miller in ihrem Best­seller “Das Dra­ma des begabten Kindes und die Suche nach dem Wahren Selb­st”.

Als zen­tralen Fak­tor bei diesen Kon­di­tion­ierun­gen nen­nt Fromm den Umgang mit der Sex­u­al­ität:
Die größte Schwierigkeit bei dieser Unter­drück­ung des Wil­lens beste­ht hin­sichtlich der Sex­u­al­ität, da wir es hier mit einem starken natür­lichen Streben zu tun haben, das weniger leicht zu manip­ulieren ist als viele andere Wün­sche. Aus diesem Grund wurde die Sex­u­al­ität heftiger bekämpft als fast jedes andere men­schliche Ver­lan­gen. Es erübrigt sich, die ver­schiede­nen For­men von Dif­famierung der Geschlechtlichkeit aufzuzählen, von moralis­ch­er Ver­teufelung (Sex­u­al­ität ist an sich böse) bis zu gesund­heitlichen Argu­menten (Mas­tur­ba­tion ist schädlich). Die Kirche ver­bi­etet die Geburtenkon­trolle im Grunde nicht deshalb, weil sie um die Heiligkeit des Lebens besorgt ist (eine Besorg­nis, die zur Ablehnung der Todesstrafe und ein­er Ver­dammung des Krieges führen würde), son­dern um die Sex­u­al­ität zu verunglimpfen, sofern sie nicht der Fortpflanzung dient.
Alle Anstren­gun­gen zur Unter­drück­ung der Sex­u­al­ität müssten schw­er ver­ständlich bleiben, wenn es nur um Sex­u­al­ität an sich gin­ge. Aber nicht darum geht es, son­dern das Brechen des men­schlichen Wil­lens ist der Grund, weshalb die Sex­u­al­ität so ver­teufelt wird.

Mit dieser Fest­stel­lung trifft er sich mit den Erken­nt­nis­sen eines anderen Freud-Schülers: Wil­helm Reich (Charak­ter­analyse, Die Massenpsy­cholo­gie des Faschis­mus, Die Funk­tion des Orgas­mus, u.a.m.). Während Fromm mit seinem Werk all­ge­meine Anerken­nung gefun­den hat, wird Reich — abge­se­hen von kleinen alter­na­tiv­en Zirkeln — allerd­ings bis heute ignori­ert oder sog­ar radikal abgelehnt, — zu Unrecht. Ein­er sein­er Schüler, Alexan­der S. Neill, machte immer­hin in den 70er- und 80er-Jahren mit seinem “Summerhill”-Schulprojekt Schlagzeilen, und die bei­den Ärzte und Psy­cho­an­a­lytik­er Alexan­der Lowen und John Pier­rakos hat­ten mit auf Reich’schen Erken­nt­nis­sen auf­bauen­den Ther­a­pi­en (“Bioen­er­getik”) dur­chaus Erfolg.

Die in den 60er Jahren begin­nende sex­uelle Frei­heits­be­we­gung begrüsste Fromm grund­sät­zlich, indem er darauf hin­wies, dass neue For­men der Besit­zlosigkeit die sex­uelle Gier beseit­i­gen wür­den, die für alle am Haben ori­en­tierten Gesellschaften charak­ter­is­tisch ist.
Aber das Brechen sex­ueller Tabus führt nicht an sich zu größer­er Frei­heit; die Rebel­lion ertrinkt gewis­ser­maßen in der sex­uellen Befriedi­gung und den darauf­fol­gen­den Schuldge­fühlen. Nur die Erre­ichung inner­er Unab­hängigkeit öffnet die Tür zur Frei­heit und beseit­igt den Drang nach frucht­los­er Rebel­lion, die nicht über den sex­uellen Bere­ich hin­aus­ge­ht. Das­selbe gilt für alle anderen Ver­suche, die Frei­heit wiederzuer­lan­gen, indem man das Ver­botene tut. Tabus erzeu­gen zwar Sexbe­sessen­heit und Per­ver­sio­nen, aber Sexbe­sessen­heit und Per­ver­sio­nen machen nicht frei.

Auch das lohnt es sich heute zur Ken­nt­nis zu nehmen:
Es sollte klar sein, dass Frei­heit nicht lais­sez-faire ist oder Willkür. Wie jede andere Spezies hat auch der Men­sch seine spez­i­fis­che Struk­tur und kann nur in Übere­in­stim­mung mit dieser wach­sen. Unter Frei­heit ver­ste­he ich nicht Frei­heit von allen Leit­prinzip­i­en, son­dern Frei­heit, der Struk­tur der men­schlichen Exis­tenz entsprechend zu wach­sen (autonome Restrik­tio­nen). Das bedeutet Gehor­sam gegenüber den Geset­zen, die die opti­male men­schliche Entwick­lung gewährleis­ten. Jede Autorität, die dieses Ziel fördert, ist eine „ratio­nale Autorität“, wenn diese Förderung darin beste­ht, die Aktiv­ität des Kindes zu mobil­isieren und seine Fähigkeit zu kri­tis­chem Denken und seinen Glauben an das Leben zu stärken. Um „irra­tionale Autorität“ han­delt es sich hinge­gen, wenn dem Kind het­eronome Nor­men aufgezwun­gen wer­den, die den Inter­essen der Autorität, nicht jenen des Kindes dienen.

Forset­zung am kom­menden Fre­itag, den 14. Juni

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