Die dritte Armut aber, von der ich nun reden will, die ist die äußerste Armut: es ist die, dass der Mensch nichts hat. Nun gebt hier genau acht! Ich habe es (schon) oft gesagt, und große Meister sagen es auch: der Mensch solle aller Dinge und aller Werke, innerer wie äußerer, so ledig sein, dass er eine eigene Stätte Gottes sein könne, darin Gott zu wirken vermöge.
Diese Aussage Meister Eckharts ist durchaus verständlich: Wessen Geist mit “Besitzdenken” verschiedenster Art erfüllt ist, kann sich der göttlichen Kraft nicht öffnen. Aber dann fährt er fort:
Jetzt aber sagen wir anders. Ist es so, dass der Mensch ledig steht aller Kreaturen und Gottes und seiner selbst, steht es aber noch so mit ihm, dass Gott in ihm eine Stätte zum Wirken findet, so sagen wir: Solange es das noch in dem Menschen gibt, ist der Mensch (noch) nicht arm in der äußersten Armut. Denn Gott strebt für sein Wirken nicht danach, dass der Mensch eine Stätte in sich habe, darin Gott wirken könne; sondern das (nur) ist Armut im Geiste, wenn der Mensch so ledig Gottes und aller seiner Werke steht, dass Gott, dafern (insofern) er in der Seele wirken wolle, selbst die Stätte sei, darin er wirken will -, und dies tut er (gewiss) gern.
Man muss diesen Abschnitt zweimal lesen, um wirklich zu verstehen, was er hier sagt: Es geht um nichts weniger als um eine radikale Umwandlung des Menschen insofern, als “alles Menschliche” aufgelöst wird im neuen “Gottmenschen”, wie er von Jeshua ben Joseph, alias Jesus Christus, vorgelebt wurde. Und — das ist das Revolutionäre — diese Entwicklungsmöglichkeit steht uns allen offen, (auch wenn es dafür viele Inkarnationen braucht).
Und dann doppelt er gleich noch einmal nach:
So denn sagen wir, dass der Mensch so arm dastehen müsse, dass er keine Stätte sei noch habe, darin Gott wirken könne. Wo der Mensch (noch) Stätte (in sich) behält, da behält er (noch) Unterschiedenheit. Darum bitte ich Gott, dass er mich „Gottes“ quitt (mich seiner ledig) mache.
Radikaler denken geht nun wirklich nicht!
Erich Fromm paraphrasiert Eckhart so:
Zunächst sollen wir frei von eigenen Dingen und Handlungen sein. Das heißt nicht, dass wir weder etwas besitzen, noch dass wir nichts tun sollen; es bedeutet, dass wir an das, was wir besitzen und tun, nicht gebunden, gefesselt, gekettet sein sollen — nicht einmal an Gott (…)
Die Freiheit des Menschen ist in dem Maße eingeschränkt, in dem wir an Besitz, Werken und letztlich an unserem eigenen Ich hängen. Durch die Bindung an unser eigenes Ich … stehen wir uns selbst im Wege und können nicht Frucht tragen, uns selbst nicht voll verwirklichen.
Anders gesagt: Je mehr wir unser “Ich” im Sinne unseres “Egos” loslassen, desto mehr gelangen wir zur Verwirklichung unseres ureigensten Seins in Gott und zur Erfüllung unserer uns zugedachten Aufgabe auf dieser Erde.
Fromm: Freiheit im Sinne von Ungebundenheit und Befreitsein von der Sucht, an Dingen und am eigenen Ich festzuhalten, ist die Voraussetzung für Liebe und für produktives Sein. Laut Eckhart ist unser Ziel als Menschen, uns aus den Fesseln der Ichbindung und der Egozentrik, das heißt von der Existenzweise des Habens zu befreien, um zum vollen Sein zu gelangen.
In der Existenzweise des Habens sind nicht die verschiedenen Objekte des Habens das Entscheidende, sondern die ganze Einstellung. Alles und jedes kann zum Objekt der Begierde werden: Gegenstände des täglichen Lebens, Besitz, Rituale, gute Taten, Wissen und Gedanken. All diese Dinge sind nicht an sich „schlecht“, sie werden schlecht, das heißt, sie blockieren unsere Selbstverwirklichung, wenn wir uns an sie klammern, wenn sie zu Ketten werden, die unsere Freiheit einschränken.
Wahre Freiheit erringen wir also durch unser stetiges Bemühen, auf verschiedensten Ebenen “das Loslassen” zu üben, damit der Wahre Wille, der zugleich Gottes Wille ist, sich in uns manifestieren kann.
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