Erich Fromm, der in einem orthodoxen jüdischen Milieu aufwuchs, emanzipierte sich als Psychoanalytiker von einem rigiden religiösen “Kästchendenken”, fühlte sich aber bis an sein Lebensende mit dem Judentum als spiritueller Strömung verbunden. Das erlaubte ihm, dem christlichen Impuls der ersten Jahrhunderte offen zu begegnen und gleichzeitig die Position vieler Exponenten innerhalb des damaligen Judentums zu erklären:
Man muss das Frühchristentum ernster nehmen, als dies gemeinhin getan wird, um den fast unglaublichen Radikalismus dieser kleinen Gemeinschaft ermessen zu können, die, auf „nichts anderes“ als ihre moralische Überzeugung gestützt, den Stab über die bestehende Welt brach.
Die Mehrheit der Juden wählte jedoch einen anderen Weg. Sie weigerten sich zu glauben, dass eine neue Ära begonnen habe, und warteten weiterhin auf den wahren Messias, der kommen werde, wenn die Menschheit (und nicht nur die Juden) das Stadium erreicht habe, in dem es möglich ist, das Reich der Gerechtigkeit, des Friedens und der Liebe in einem historischen statt einem eschatologischen Sinn zu errichten.
Die Errichtung eines Reiches der Gerechtigkeit, des Friedens und der Liebe — anders gesagt: des “Reiches Gottes” — ganz konkret auf dieser Erde .… Ist dieser Gedanke angesichts der aktuellen Weltlage nicht unfassbar naiv und reinste Hybris!?
Wie ist das Täufer-Experiment zur Errichtung eines “neuen Jerusalem” damals 1534 in Münster ausgegangen!? — Na, also!
Doch so einfach ist es nicht. Grosse Theologen wie Leonhard Ragaz mit seiner Reich-Gottes-Theologie oder christliche Philosophen wie Ignaz Troxler, dem eigentlichen “Vater” unserer Bundesverfassung von 1848, postulierten die Möglichkeit, ja die Notwendigkeit eines historischen Quantensprungs hin zu einer Menschheit, die gelernt hat, auf dieser Erde im Einklang mit den grundlegenden spirituellen Gesetzmässigkeiten und im Einklang mit der Natur zu leben.
Seine Verbundenheit mit dem spirituellen Erbe des Judentums und seiner Offenheit gegenüber dem christlichen Impuls erlaubte es Fromm auch, neben der grossen Weisheit chassidischer Lehrer auch die tiefe Wahrheit in der christlichen Mystik zu erkennen, insbesondere im Werk von Meister Eckhart. Und mit Meister Eckhart und Fromm kommen wir zurück zum Thema “Haben oder Sein”:
Eckhart hat den Unterschied zwischen den Existenzweisen des Habens und des Seins mit einer Eindringlichkeit und Klarheit beschrieben und analysiert, wie sie von niemandem je wieder erreicht worden ist. Er war eine der führenden Persönlichkeiten des Dominikanerordens in Deutschland, ein gelehrter Theologe, der bedeutendste Vertreter der deutschen Mystik und ihr tiefster und radikalster Denker. (…)
Die klassische Quelle für Eckharts Ansichten über die Existenzweise des Habens ist seine Predigt über die Armut, die vom Text des Matthäus-Evangeliums (5,3) ausgeht: „Selig sind die geistlich Armen; denn ihrer ist das Reich der Himmel.“ Eckhart erörtert in dieser Predigt die Frage, was geistige Armut sei. Er erklärt zu Beginn, dass er nicht von äußerer, d. h. materieller Armut spreche, obwohl diese gut und lobenswert sei. Er möchte auf die innere Armut eingehen, auf jene Armut, von der im Evangelium die Rede ist.
Innere Armut definiert er so: „Das ist ein armer Mensch, der nichts will und nichts weiß und nichts hat“ … Wer ist dieser Mensch, der nichts will? Üblicherweise würden wir dies auf einen Menschen beziehen, der ein asketisches Leben gewählt hat. Aber das meint Eckhart nicht. Er schilt diejenigen, die Bedürfnislosigkeit als Bußübung und äußerlich religiöse Übung begreifen. Von Leuten mit dieser Überzeugung meint er, dass sie an ihrem selbstsüchtigen Ich festhalten. „Diese Menschen heißen heilig auf Grund des äußeren Anscheins; aber von innen sind sie Esel, denn sie erfassen nicht den eigentlichen Sinn göttlicher Wahrheit“.
Eckhart geht es um die Art von Haben-Wollen, die auch eine fundamentale Kategorie des buddhistischen Denkens ist: Gier, Habsucht und Egoismus. Buddha sah das Begehren als Ursache des menschlichen Leidens an; nicht die Lebensfreude als solche. Wenn Eckhart davon spricht, dass man keinen Willen haben soll, so meint er damit nicht, dass man schwach sein sollte. Er redet von jener Art von Willen, der identisch ist mit der Begierde, von der man getrieben wird – die also recht betrachtet kein Wille ist.
Im Gegensatz dazu stünde der lebendige Wille, der mit dem schöpferischen Willen, dem “Wahren Willen”, eins ist und dem Leben dient.
Aber was hat es mit dem “nichts wissen” und “nichts haben” Meister Eckharts auf sich? Dazu mehr in der nächsten Folge am kommenden Freitag, den 17. Mai.
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