Das Neue Tes­ta­ment setzt den alt­tes­ta­ment­li­chen Pro­test gegen ein am Haben ori­en­tier­tes Leben fort. Die­ser Pro­test ist sogar noch radi­ka­ler als der frü­he­re jüdi­sche, schreibt Erich Fromm, und damit hat er natür­lich recht:

Die früh­christ­li­chen Gemein­den waren vom Geist unein­ge­schränk­ter mensch­li­cher Soli­da­ri­tät erfüllt, was sich manch­mal in dem spon­ta­nen Wunsch äußer­te, alle mate­ri­el­len Güter mit­ein­an­der zu tei­len. (…) Die­ser revo­lu­tio­nä­re Geist des Früh­chris­ten­tums zeigt sich beson­ders deut­lich in den ältes­ten Tei­len der Evan­ge­li­en, wie sie in den christ­li­chen Gemein­den bekannt waren, die sich noch nicht vom Juden­tum los­ge­sagt hat­ten. Die­se ältes­ten Tei­le kön­nen aus der gemein­sa­men Quel­le des Mat­thä­us- und Lukas-Evan­ge­li­ums rekon­stru­iert wer­den.

Fromm bezieht sich hier die sog. Zwei-Quel­len-Theo­rie mit der hypo­the­ti­schen Quel­le Q.

Wir fin­den dort als zen­tra­les Pos­tu­lat, dass der Mensch aller Hab­gier und allem Ver­lan­gen nach Besitz­tü­mern ent­sa­gen und sich voll­stän­dig vom Haben befrei­en müs­se. Alle posi­ti­ven ethi­schen Nor­men wur­zeln dem­entspre­chend im Ethos des Seins, des Tei­lens und der Soli­da­ri­tät. Die­se grund­le­gen­de ethi­sche Posi­ti­on gilt sowohl für das Ver­hält­nis zum Mit­men­schen als auch für das Ver­hält­nis zu Din­gen. Der radi­ka­le Ver­zicht auf die eige­nen Rech­te (Mt 5,39–42; Lk 6,29 f.) sowie die For­de­rung, sei­ne Fein­de zu lie­ben (Mt 5,44–48; Lk 6,27 f., 32–36) unter­streicht noch radi­ka­ler als das „lie­be dei­nen Nächs­ten“ des Alten Tes­ta­ments (Lev 19,18) die voll­stän­di­ge Auf­ga­be aller Selbst­sucht und die vol­le Ver­ant­wor­tung für den Mit­men­schen. Die For­de­rung, nicht ein­mal über den Mit­men­schen zu urtei­len (Mt 7,1–5; Lk 6,37 f. 41 f.) ist eine Erwei­te­rung des Prin­zips, sein Ego zu ver­ges­sen und sich voll­stän­dig dem Ver­ständ­nis und dem Wohl­be­fin­den des ande­ren zu widmen.

Eini­ge die­ser For­de­run­gen sind wirk­lich radi­kal, und manch eine/r wird sie als völ­lig unrea­lis­tisch abtun, z.B. die Auf­for­de­rung Jesu: Ich sage euch aber: Wehrt euch nicht, wenn euch Böses geschieht! Wenn man dir eine Ohr­fei­ge gibt, dann hal­te die ande­re Wan­ge auch noch hin! (Mt 5,39). Es sei denn, man lernt die Inter­pre­ta­ti­on die­ser For­de­rung ken­nen, wie sie etwa der bulgarisch/französische spi­ri­tu­el­le Leh­rer Mik­ha­el Aiv­an­hov gege­ben hat.
Auch haben die Erkent­nis­se C.G. Jungs zum Schat­ten, den jede/r in sich trägt, gehol­fen zu ver­ste­hen, wie wir uns häu­fig auf­grund der Pro­jek­ti­on unse­res eige­nen Schat­tens auf ande­re zu lieb­lo­sem (Ver-)Urteilen hin­reis­sen lassen.

Doch wei­ter mit Erich Fromm:
Auch in Bezug auf Din­ge wird der tota­le Ver­zicht auf das Haben gefor­dert. Die Urge­mein­de bestand auf radi­ka­ler Los­sa­gung von Eigen­tum; sie warn­te vor der … Ansamm­lung von Reich­tü­mern. „Sam­melt euch nicht Schät­ze auf der Erde, wo Mot­ten und Wür­mer sie zer­stö­ren und wo Die­be ein­bre­chen und sie steh­len, son­dern sam­melt euch Schät­ze im Him­mel, wo kei­ne Mot­ten und Wür­mer sie zer­stö­ren und kei­ne Die­be ein­bre­chen und sie steh­len. Denn wo dein Schatz ist, da ist auch dein Herz“ (Mt 6,19 f.; vgl. Lk 12,33 f.). Im glei­chen Geist sagt Jesus: „Wohl euch, ihr Armen, denn euch gehört das Reich Got­tes“ (Lk 6,20; eben­so Mt. 5,3). Das Früh­chris­ten­tum war in der Tat eine Gemein­schaft von Armen und Lei­den­den, die von der apo­ka­lyp­ti­schen Über­zeu­gung erfüllt waren, dass die Zeit reif sei für das end­gül­ti­ge Ver­schwin­den der bestehen­den Ord­nung, wie Gott es in sei­nem Heils­plan vor­ge­se­hen hatte.

Hat Jesus also den radi­ka­len Ver­zicht auf jeg­li­chen Besitz “à la Franz von Assi­si” gepre­digt? Oder ein­fach die radi­ka­le inne­re Aus­rich­tung auf den “Seins-Modus” ange­sichts unse­res Besitzes?

Fort­set­zung am kom­men­den Frei­tag, den 10. Mai!

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