Das höchs­te Ziel der Exis­ten­zwei­se des Seins ist tie­fe­res Wis­sen, in der Exis­ten­zwei­se des Habens jedoch mehr Wis­sen, lau­te­te der Schluss­satz der letz­ten Fol­ge, und Erich Fromm führt gleich aus, was er damit meint: Das aktu­el­le Schul­sys­tem ist noch all­zu­sehr die­ser “Exis­ten­zwei­se des Habens” verpflichtet.
Unser Bil­dungs­sys­tem ist im All­ge­mei­nen bemüht, Men­schen mit Wis­sen als Besitz aus­zu­stat­ten, ent­spre­chend etwa dem Eigen­tum oder dem sozia­len Pres­ti­ge, über das sie ver­mut­lich im spä­te­ren Leben ver­fü­gen wer­den. Das Mini­mal­wis­sen, das sie erhal­ten, ist die Infor­ma­ti­ons­men­ge, die sie brau­chen, um in ihrer Arbeit zu funk­tio­nie­ren. Zusätz­lich erhält jeder noch ein grö­ße­res oder klei­ne­res Paket „Luxus­wis­sen“ zur Hebung sei­nes Selbst­wert­ge­fühls und ent­spre­chend sei­nem vor­aus­sicht­li­chen sozia­len Prestige.
Mit die­ser Beob­ach­tung trifft er sich mit Aldous Hux­ley, der in sei­nen ers­ten Roma­nen den Umgang mit dem “Wis­sen” als “Haben” auf sati­ri­sche und oft zyni­sche Wei­se aufs Korn nahm.

Fromm: Die Schu­len sind die Fabri­ken, in denen die­se Wis­sens­pa­ke­te pro­du­ziert wer­den, wenn sie auch gewöhn­lich behaup­ten, den Schü­ler mit den höchs­ten Errun­gen­schaf­ten des mensch­li­chen Geis­tes in Berüh­rung zu bringen.
Ein zu har­sches Urteil?

Erich Fromm spürt den bei­den Exis­ten­zwei­sen des Habens oder Seins auch auf dem Feld des Glau­bens nach:
In der Exis­ten­zwei­se des Habens ist Glau­be der Besitz von Ant­wor­ten, für die man kei­nen ratio­na­len Beweis hat. Er besteht aus For­mu­lie­run­gen, die von ande­ren geschaf­fen wur­den und die man akzep­tiert, weil man sich die­sen ande­ren – gewöhn­lich einer Büro­kra­tie – unter­wirft. Er gibt einem ein Gefühl der Gewiss­heit auf Grund der rea­len (oder nur ein­ge­bil­de­ten) Macht der Büro­kra­tie. Er ist die Ein­tritts­kar­te, mit der man sich die Zuge­hö­rig­keit zu einer gro­ßen Grup­pe von Men­schen erkauft, er nimmt einem die schwie­ri­ge Auf­ga­be ab, selbst zu den­ken und Ent­schei­dun­gen zu treffen.

Wirk­lich exis­tenz­ent­schei­dend wird der Gegen­satz zwi­schen “Haben” und “Sein” aber auf der reli­giö­sen Ebene:
Gott, ursprüng­lich ein Sym­bol für den höchs­ten Wert, den wir in unse­rem Innern erfah­ren kön­nen, wird in der Exis­ten­zwei­se des Habens zu einem Idol. Das bedeu­tet im Sin­ne der Pro­phe­ten, ein von Men­schen gemach­tes Ding, auf das der Mensch sei­ne eige­nen Kräf­te pro­ji­ziert und sich selbst dadurch schwächt. Er unter­wirft sich also sei­ner eige­nen Schöp­fung und erfährt sich selbst durch die Unter­wer­fung in einer ent­frem­de­ten Form. Ich kann das Idol haben, weil es ein Ding ist, doch auf Grund mei­ner Unter­wer­fung hat es gleich­zei­tig mich.
Sobald Gott zum Idol gewor­den ist, haben sei­ne angeb­li­chen Eigen­schaf­ten so wenig mit der per­sön­li­chen Erfah­rung zu tun wie ent­frem­de­te poli­ti­sche Doktrinen.

Was geschieht, wenn eine Reli­gi­on in die­sen “Haben”-Modus abglei­tet, kön­nen wir heu­te erneut an höchst kon­kre­ten Bei­spie­len mit­ver­fol­gen, gera­de auch im Chris­ten­tum: Russ­land und die USA las­sen grüssen …

In der Exis­ten­zwei­se des Seins ist Glau­be ein völ­lig ande­res Phä­no­men. Kann der Mensch ohne Glau­ben leben? Muss der Säug­ling nicht an die Mut­ter­brust glau­ben? Müs­sen wir nicht alle an unse­re Mit­men­schen glau­ben, an unse­re Liebs­ten und an uns selbst? Kön­nen wir ohne Glau­ben an die Gül­tig­keit von Nor­men für unser Leben exis­tie­ren? Ohne Glau­ben wird der Mensch in der Tat unfrucht­bar, hoff­nungs­los und bis ins Inners­te sei­nes Wesens verängstigt.

Glau­be in der Exis­ten­zwei­se des Seins ist nicht in ers­ter Linie ein Glau­be an bestimm­te Ideen (obwohl er auch das sein kann), son­dern eine inne­re Ori­en­tie­rung, eine Ein­stel­lung. Es wäre bes­ser zu sagen, man sei im Glau­ben, als man habe Glauben. (…)
Im … Ver­lauf der jüdi­schen und christ­li­chen Ent­wick­lung wird der Ver­such unter­nom­men, die voll­stän­di­ge Ent­ido­li­sie­rung Got­tes zu errei­chen, oder bes­ser gesagt, die Gefahr der Ido­li­sie­rung durch das Pos­tu­lat zu ban­nen, dass nicht ein­mal eine Aus­sa­ge über die Eigen­schaf­ten Got­tes gemacht wer­den darf. Oder der sehr radi­ka­le Ver­such in der christ­li­chen Mys­tik – von Pseu­do-Dio­ny­si­os Areo­pa­gi­ta bis hin zum unbe­kann­ten Ver­fas­ser der Wol­ke des Nicht­wis­sens und zu Meis­ter Eck­hart –, wo der Got­tes­be­griff auf den des Einen, der „Gott­heit“ (des Nichts – no-thing) hin­aus­läuft und hier­mit Anschau­un­gen folgt, wie sie in den Veden und im neu­pla­to­ni­schen Den­ken aus­ge­drückt sind. Die­ser Glau­be an Gott ist ver­bürgt durch die inne­re Erfah­rung der gött­li­chen Eigen­schaf­ten des eige­nen Selbst, er ist ein stän­di­ger, akti­ver Pro­zess der Selbst­er­schaf­fung, oder, wie Meis­ter Eck­hart sagt, Chris­tus wer­de ewig in uns selbst geboren.

Genau das hat schon im 19. Jahr­hun­dert der Vater unse­rer Bun­des­ver­fas­sung von 1848, Ignaz P.V. Trox­ler, in sei­nen phi­lo­so­phi­schen Schrif­ten dar­ge­legt, wenn er schrieb:
Es ist die Wie­der­ge­burt des Men­schen in sei­nem eige­nen Geis­te, oder der in sein höchs­tes Selbst aus der Ver­kehrt­heit sei­nes Ichs zurück­ge­führ­te Geist. Die per­sön­li­che Unsterb­lich­keit oder die unsterb­li­che Per­sön­lich­keit als Him­mel­reich, das inwen­dig in dem Men­schen liegt, oder als ewi­ges Leben, in wel­ches wir wie­der gebo­ren wer­den sol­len, ist der Ur- und Grund­ge­dan­ke des Chris­ten­tums. (aus dem 7. Vor­trag sei­ner Ber­ner Vorlesungen)

Fort­set­zung am kom­men­den Frei­tag, den 19. April

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