Vor ein paar Mil­lio­nen Jahren war die Rheinebene von einem Meer bedeckt, und nur ein paar Voge­sen- und Schwarzwaldgipfel ragten her­vor. Mutige Seefahrer aus dem Nor­den macht­en jew­eils auf dem Weg zum Süd­kon­ti­nent an ein­er der kleinen Inseln Halt, von der sie glaubten, sie werde von ein­er Got­theit bewohnt. Dort opfer­ten sie und bat­en um Schutz für ihre gefährliche Reise. Auf dem Rück­weg unter­brachen sie ihre Reise erneut, um dem Gott oder der Göt­tin zu danken. Das Schiff ban­den sie jew­eils an einen mächti­gen Felsen, der aus dem Meer ragte. Doch eines Tages sank der Meer­esspiegel und verun­möglichte weit­ere Schiff­s­reisen. Noch heute kann man den Ring am Felsen* bewun­dern, an dem die Schiffe fest­gemacht wur­den.
Dieser Insel gab man später den Namen “Taen­nchel”, und den Ring, an dem die Schiffe fest­gemacht wur­den, ist am Rocher des Anneaux* noch heute zu bewun­dern.”

Man kann über solche Leg­en­den lächeln, aber sie sind Aus­druck der Erfahrung der ganz beson­deren und geheimnisvollen Atmo­sphäre, die man auf dem Taen­nchel erlebt. Woher der Name kommt, wird bis heute disku­tiert. Was sich­er ist: Tan­nen haben damit nichts zu tun. Im Mit­te­lal­ter waren gemäss alten Urkun­den Eichen vorherrschend.

Wan­dern wir also zusam­men los! Wir starten in Ribeauvil­lé — früher Rap­poltsweil­er, dem schmuck­en Elsässer­dorf am Fuss der mächti­gen Bur­gen der Her­ren von Rap­polt­stein alias Ribeaupierre. Die Ruine der Ulrichs­burg bildet sozusagen das Ein­gangstor zum lan­gen Auf­stieg auf den Taen­nchel-Bergrück­en. Obwohl wir fast 500 Höhen­meter zu über­winden haben, gestal­tet er sich im Schat­ten der Bäume angenehm. Oben ange­langt, erwartet uns beim Rocher de la paix d’U­dine ein ein­drück­lich­er Blick auf die Ebene des Elsass. Dankbare Ein­wohn­er hin­ter­liessen dort nach dem Sieg Napoleons gegen Öster­re­ich eine Inschrift im Fels­block.

Dann fol­gen wir dem Pfad ent­lang des fast 6 km lan­gen Bergkamms, der — abge­se­hen von der Schön­heit des Wan­der­wegs — vor allem dank sein­er ein­drück­lichen und bizarren Fels­for­ma­tio­nen immer wieder neu über­rascht: Rocher des Géants, Rochers des Titans, Rocher pointu, Rocher des Rep­tiles … Radiäs­the­sisten wis­sen viel zu erzählen über die starken Energiefelder — manch­mal pos­i­tiv, manch­mal neg­a­tiv -, die man dort messen kann. Soge­nan­nte “coupoles” auf den Felsen nähren die Ver­mu­tung, dass sie in vorkeltischen oder keltischen Zeit­en rit­uellen Zweck­en dien­ten.
Hei­del­beer­sträuch­er säu­men den Weg, die im Spät­som­mer zum Naschen und Sam­meln ein­laden. Wir wan­dern auch ein­er über 2 km lan­gen mehr oder weniger gut erhal­te­nen “Hei­den­mauer” ent­lang, über deren Entste­hungs­da­tum und Zweck gerät­selt wird. Bis heute hat kein­er der Vorschläge überzeugt.

Als ich im Mai 2000 wieder ein­mal auf den Taen­nchel stieg, erwartete mich ein Schock: Lothar, der im Jura und Schwarzwald ganze Wald­kup­pen abrasierte, hat­te auch diesen Bergkamm nicht ver­schont: Stel­len­weise sah es aus wie nach dem Ein­schlag ein­er Bombe. So musste es manch­mal aus­ge­se­hen haben, als sich Frankre­ich und Deutsch­land während des ersten Weltkriegs in den Voge­sen in einem Schützen­graben-Stel­lungskrieg gegenüberge­s­tanden hat­ten … Inzwis­chen hat sich die Natur wieder etwas erholt, doch Nar­ben des seit Men­schenge­denkens stärk­sten Orkans, der mit über 200 km über die Wälder brauste, sind immer noch vorhan­den.

Ein beson­deres Erleb­nis ist es, auf dem Taen­nchel eine Nacht im Schlaf­sack zu ver­brin­gen. Eigentlich ein gefährlich­es Unternehmen, wenn man der War­nung ein­er Web­seite Glauben schenken möchte 😉 :
Zum Glück wachte ich am Mor­gen gesund und munter auf und erlebte erst noch einen wun­der­vollen Son­nenauf­gang 🙂 .

Als ich allerd­ings ein­mal mit einem Bekan­nten eine weit­ere Nacht auf dem Taen­nchel ver­brachte, hat­ten wir tat­säch­lich ein etwas unheim­lich­es Erleb­nis. Wir schnar­cht­en friedlich in einem natür­lichen Felse­nun­ter­stand, als wir gegen ein, zwei Uhr mor­gens plöt­zlich aufwacht­en. Eine mit Taschen­lam­p­en verse­hene Gruppe wan­derte ohne zu sprechen über unsere Köpfe hin­weg und ver­schwand wieder im Dunkeln. Ob sie auf dem Weg zu einem Ren­dezvous mit besagten Gnomen und Naturgeis­tern waren ;-)?

Im zweit­en Teil geniessen wir zuerst eine kleine Diaschau zu den Naturschön­heit­en auf dem Taen­nchel, um nach­her wieder gemütlich nach Ribeauvil­lé hin­un­terzusteigen, allerd­ings mit einem kleinen Umweg zu einem ganz beson­deren Wall­fahrt­sort eben­falls am Fusse des Mas­sivs.

* Der Ring ist tat­säch­lich vorhan­den, stammt allerd­ings aus dem Jahr 1879. Immer­hin ein schön­er Beweis, wie lebendig damals die Leg­ende noch war!

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Tür.li 21 (2020)
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