Das erste Tellenbild in der “Kronica von der loblichen Eydtgenossenschaft” des Luzerner Geschichtsschreibers Petermann Etterlin um 1505.
Meine erste Begegnung mit Wilhelm Tell fand auf dem Fussboden im Schlafzimmer meiner Eltern in einem Ostschweizer Dorf statt. Die Sonne schien durch das Fenster, und ich blätterte fasziniert im Buch mit Schillers Theaterstück aus der kleinen, aber feinen Bibliothek meines Vaters, wahrscheinlich damals von der Büchergilde Gutenberg herausgegeben. Lesen konnte ich noch nicht, — und selbst wenn doch: die alte deutsche Frakturschrift wäre nicht ganz einfach zu entziffern gewesen. Umso faszinierter war ich von den vielen bunten und dramatischen Abbildungen, die mir die Geschichte auch ohne Text höchst lebendig vor Augen führten.
Viele Jahre später sitze ich in einem kleinen Hörsaal der Uni Basel und höre gespannt den Ausführungen vom “Burgen-Meyer” zu (Prof. Dr. Werner Meyer — weltberühmter Burgenforscher), der uns Geschichtsstudenten eine ganz andere Gründungsgeschichte der Eidgenossenschaft präsentiert, als ich sie vom Schulunterricht in Erinnerung habe. All die schönen Geschichten vom Tell, vom Schwur auf dem Rütli, vom Burgenbruch — nichts davon lässt sich nur im Geringsten dokumentarisch oder archäologisch nachweisen und untermauern!
Dann erscheint 1971 das Buch “Schweizer Geschichte für Ketzer oder die wunderbare Entstehung der Eidgenossenschaft” von Otto Marchi, Schüler des Mediävisten Marcel Beck, und ich entdecke erstaunt, dass die Geschichte vom Meisterschützen Tell beileibe keine eidgenössische Exklusivität ist, sondern in diversen Abwandlungen auch im Norden Europas kursierte. Beim dänischen Schützen Toko war der Tyrann nach dem Apfelschuss und der Frage nach dem zweiten Pfeil allerdings etwas menschlicher: Toko durfte sein Leben nach einer weiteren Mutprobe in Form einer lebensgefährlichen Ski-Schussfahrt behalten 🙂
Wilhelm Tell lediglich ein europäischer Wandermythos!? All die heldenhaften Taten der Befreiungsgeschichte nur eine politisch geschickt inszenierte Propagandakampagne aus dem 15. Jahrhundert!?
Das können bis heute viele Miteidgenossen nur schwer akzeptieren, obwohl der Luzerner Historiker Joseph Eutych Kopp aufgrund seines metikulösen Quellenstudiums schon anfangs des 19. Jhdts seine Zweifel an der Gründungssage äusserte. Immer wieder gab es — und gibt es — Versuche, die historische Existenz von Wilhelm Tell doch noch nachzuweisen, z.B. beim Historiker Karl Meyer im Zuge der geistigen Landesverteidigung während des zweiten Weltkriegs, oder neuerdings bei den Hobbyhistorikern Arnold Claudio Schärer und Christian Schmid von Uri, die Tell allerdings als eingewanderten Zürcher aus einem alten Geschlecht von Schwertemachern und Waffenschmieden nachzuweisen versuchten und herausfanden, dass sein Sohn Konrad, der “Apfelbub”, Gesslers Enkelin Bela heiratete: Ende gut, alles gut :-)!
Sogar ein Historiker-Schwergewicht wie Jean-François Bergier — Präsident der Unabhängigen Expertenkommission Schweiz — Zweiter Weltkrieg — liess es sich nicht nehmen, sich noch 1988 in seinem Buch “Guillaume Tell” (deutsch: Wilhelm Tell, Realität und Mythos) mit dieser Frage intensiv auseinanderzusetzen.
Nochmals: Wilhelm Tell also “nur” ein Mythos?
Meine Überzeugung: Ja, gottseidank ein Mythos!!
Der Hase im Pfeffer bei dieser ganzen Auseinandersetzung liegt bei dem kleinen Wörtchen: “nur” … Um das zu verstehen, müssen wir uns mit dem Begriff des Mythos etwas genauer auseinandersetzen. In der Mitte des 20. Jahrhunderts war er nämlich in der Forschung und im allgemeinen Sprachgebrauch negativ und abwertend besetzt: Mythos als nicht ernst zu nehmendes Märchen, Sagenstoff, — gut genug für Kinder, aber doch nicht für Erwachsene! Mythos gar als Lüge, die es zugunsten der historischen Wahrheit zu entlarven galt. Wilhelm Tell vielleicht noch gut genug für eine erbauliche Erzählung für die Jugend, oder wie bei Max Frisch in “Wilhelm Tell für die Schule” als satirisch-ironische Alternativerzählung, in der Tell den armen Gessler gegen dessen Willen zum harten Durchgreifen zwingt …
Dann kam mit Forschern wie Mircea Eliade, C.G. Jung und Joseph Campbell die grosse kopernikanische Wende. Darüber werden wir in der nächsten Folge sprechen.
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