Als Cagliostro sich in Strassburg als Arzt betätigte — Augenzeugen wie der Zürcher Dichter und Staatsmann Johannes Bürkli oder Jean-Benjamin de la Borde sprechen von Tausenden von Heilungen — erregte er naturgemäss das Interesse der Strassburger gehobenen Gesellschaft, und es dauerte nicht lange, bis sich, von Neugier getrieben, der dem französischen Hochadel entstammende Fürstbischof und Kardinal Louis René Edouard de Rohan Cagliostro in seine prunkvolle Residenz in Taverne/Zabern einlud. Sein Familienmotto “Roi ne puis, duc ne daigne, Rohan suis” macht deutlich, was er von sich hielt.
Seine Überraschung muss ziemlich gross gewesen sein, als Cagliostro ihm kurz und bündig mitteilen liess, er empfange den Kardinal gerne, falls er krank sei. Ansonsten brauche er den Kardinal so wenig wie umgekehrt auch. Erst als sich Rohan wegen eines Asthmaanfalls bei ihm meldete, geruhte er ihn in Strassburg für eine Konsultation zu empfangen. Aus dieser Begegnung entwickelte sich wegen des gemeinsamen Interesses an der Alchemie bald eine Freundschaft, die Cagliostro allerdings wenige Jahre später zum Verhängnis werden sollte. Doch dazu später mehr.
Dieses höchst selbstbewusste Auftreten des Grafen irritierte und faszinierte sowohl seine Freunde wie seine Feinde. Einer seiner virulenten Kritiker, der polnische Comte Mozynski, schrieb erstaunt:
Er handelt gegen alle Intriganten und scheint fast zu versuchen, die Leute zu entfremden, die ihm am nützlichsten wären, und Was einem an seiner Art am meisten auffällt, ist sein unvergleichlicher Stolz und ein absolutes Fehlen gesellschaftlich adäquaten Auftretens (gemeint ist der Verhaltenskodex in adeligen Kreisen).
Dieses Selbstbewusstsein drückte sich offensichtlich auch in seinen Augen aus. Johannes Bürkli sprach von seinem alles durchdringenden Falkenauge, de la Borde von seinen feurigen Augen, die in den Tiefen der Seelen lesen. Die Marquise de Créquy, eine französische Intellektuelle, die in Paris in ihrem Salon Voltaire und Rousseau empfing, meinte, man habe noch nie Augen wie die seinen gesehen.
Und die Baronin von Oberkirch notierte in ihren Memoiren nach einer Begegnung mit Cagliostro beim Kardinal:
Er war nicht unbedingt gutaussehend, aber eine bemerkenswertere Physiognomie war meiner Beobachtung noch nie geboten worden. Er hatte vor allem einen Blick von fast übernatürlicher Tiefe. Den Ausdruck seiner Augen konnte ich nie einfangen: Sie waren sowohl gefühlvoll als auch eisig; er zog an und stieß ab; er machte Angst und weckte unüberwindliche Neugierde.
Bei keiner anderen Gelegenheit trat das Selbstbewusstsein Cagliostros allerdings so deutlich zu Tage wie in seiner Auseinandersetzung mit der damaligen Freimaurerei. Er war anlässlich seines ersten Aufenthalts in London in eine freimaurerische Loge aufgenommen worden.
Im ausgehenden 18. Jahrhundert hatte sich die Königliche Kunst in ganz Europa verbreitet und aus der sog. Johannismaurerei in eine ganze Reihe von Hochgradsystemen weiterentwickelt. Eines dieser Systeme, die “Strikte Observanz”, betrachtete sich als Nachfolgeorganisation des im 13. Jhdt. von Philippe IV. le Bel und Papst Clemens V. zerschlagenen Templerordens. Auch fühlten sich deren Mitglieder für ihre Arbeit von “Geheimen Oberen” angeleitet. Doch schon bald kam es zu krisenhaften Entwicklungen:
1775 waren bereits 26 Fürsten Mitglied geworden. … Die Organisation expandierte stark und wuchs in den folgenden zehn Jahren auf etwa 1.300 Mitglieder aus regierenden Häusern oder anderen einflussreichen Positionen an.
Die starke politische Nutzung der Organisation führte zu einer schweren Krise: Das erstarkende Schwedische Königshaus weitete unter Gustav III. seine Macht in Skandinavien aus. Der Bruder des schwedischen Königs, der Herzog von Södermanland, versuchte als „Heeresmeister“ der Strikten Observanz, auch Dänemark dem Einfluss derselben zu unterwerfen. Dies führte nicht nur zu erheblichem dänischen Widerstand, auch die deutschen Fürstenhäuser fürchteten die Ausdehnung des politischen Einflusses Schwedens. Mit Hilfe des Landgrafen von Hessen–Kassel wurde 1781 die Abspaltung vom Schwedischen System herbeigeführt.
Neben den politischen Motiven bestand auch inhaltliche Differenzen. Das schwedische Lehrsystem behauptete ebenfalls, im Besitz des letzten Geheimnisses der Tempelritter zu sein. Freiherr von Hund versuchte erfolglos mit Johann Wilhelm Kellner von Zinnendorf, dem Begründer des schwedischen Systems in Deutschland, einen Gegenseitigkeitsvertrag zu schließen. Beide Systeme entwickelten einen regelrechten Systemkampf, der eine Zusammenarbeit ausschloss. (Wikipedia)
Am Wilhelmsbader Konvent 1782, an dem man die aufgebrochenen Differenzen beilegen wollte, spielte der französische Hochgradmaurer Jean Baptiste Willermoz eine entscheidende Rolle.
Drei Jahre später fand in Paris der Konvent der Philaleten statt ebenfalls mit dem Ziel, die Freimaurerei auf eine solide geschichtliche und spirituelle Grundlage zu stellen:
Um sich die Kenntnisse der Maurer aller Länder und aller Systeme anzueignen und zu ergründen, worin die maurerische Wissenschaft bestehe, beriefen die Philalethen der Loge “Les amis réunis” in Paris im August 1784 einen Konvent in Zirkularen, in welchen die 128 Eingeladenen (unter denen nur 28 vom System der Philalethen waren) um Beantwortung von zehn vorgelegten Fragen gebeten wurden. (Wikipedia)
Cagliostro hatte inzwischen seine eigene Version der Freimaurerei in Form der “FrancMaçonnerie Egyptienne” entwickelt, in Lyon eine erste “Mutterloge” etabliert und deren Leitung Jean Baptiste Willermoz angeboten. Dieser trat nach intensiven Gesprächen schliesslich nicht darauf ein, weil Cagliostro in der Frage nach der Natur von Jesus Christus eine andere Position vertrat. Der orthodoxen christlichen Ansicht Willermoz’ von der einzigartigen göttlichen Natur Jesu Christi stellte Cagliostro seine Behauptung entgegen, er (und alle andern Menschen) seien genauso Söhne Gottes wie Jesus selber.
Dem Fass den Boden schlug aber schliesslich aus, als Cagliostro auf eine Einladung der Philaleten hin, an ihrem Kongress teilzunehmen, eine schockierende Bedingung stellte: Die Philalethen sollten ihr gesamtes maurerisches Archiv den Flammen opfern! Dagegen versprach er: die Maurer “werden durch Handlungen und Tatsachen, durch ihre Sinne Gott, den Menschen und die zwischen beiden stehenden erschaffenen geistigen Wesen kennen lernen, zu welcher Wissenschaft die wahre Maurerei die Symbole darbeut und den Weg andeutet”. (Freimaurer-wiki.de)
Der Konvent versuchte Cagliostro umzustimmen, doch dieser blieb bei seiner Forderung. Die Philaleten lehnten sie definitiv ab, worauf ihnen Cagliostro mit folgendem Brief antwortete:
Zur Ehre Gottes!
Warum ist die Unwahrheit immer auf den Lippen Eurer Abgeordneten, während der Zweifel ständig in Euren Herzen ist? … Gott allein kann zwischen Euch und mir entscheiden. Ihr sagt, dass ihr die Wahrheit sucht; ich habe sie euch vorgelegt und ihr habt sie verachtet. Da ihr einen Haufen Bücher und kindische Schriften dem Glück vorzieht, das ich euch zugedacht habe und das ihr mit den Auserwählten teilen solltet; da ihr keinen Glauben an die Verheißungen des Großen Gottes oder seines Dieners auf Erden habt, überlasse ich euch euch selbst, und ich sage euch die Wahrheit: Meine Mission ist nicht mehr, euch zu unterrichten. Unglückliche Philalethen, ihr sät vergeblich, ihr werdet nur Unkraut sammeln!
Markige Worte! Worte eines aufgeblasenen Scharlatans? Auf der Suche nach einer möglichen Antwort wollen wir einen Blick auf seine Reisen in Europa werfen, bevor er in Strassburg als Heiler auftrat, — und dies wie immer am kommenden Samstag, den 23. Juli.
P.S. Was heisst eigentlich selbstbewusst zu sein? Selbstbewusstsein ist oft mit Stolz konnotiert, aber im Grunde heisst es einfach “sich seiner selbst zu sein”, sich seines eigenen Selbstes bewusst zu sein. Damit sind wir allerdings schon bei der nächsten Frage, nämlich, was denn dieses Selbst eigentlich ist …
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