Auf seiner “ReAwaken America Tour” predigt der verurteilte, aber von Trump begnadigte ehemalige Drei-Sterne-General Michael Flynn unermüdlich, dass die Vereinigten Staaten sich in einem Endkampf zwischen Gut und Böse befinden und es um nichts weniger als um deren Existenz geht. Trump ist der von Gott gesandte Held, der den Kampf gegen die Mächte des Bösen und den “Deep State” aufgenommen hat.
Aus dieser Perspektive geht es 2024 bei der Wahl des neuen Präsidenten nicht einfach nur um die Wahl zwischen zwei politischen Programmen oder Richtungen. Es geht um eine viel fundamentalere Entscheidung, nämlich um die Frage, ob die Vereinigten Staaten bereit sind, dem Willen Gottes zu folgen oder sich weiterhin in den spirituellen Abgrund zu stürzen.
Die Evangelikalen — nicht nur in den USA — kennen den Willen Gottes genau und wissen, wie man ihn erfüllt: Es gilt, sich zu Jesus als dem alleinigen Retter vor Sünde, Tod und Hölle zu bekennen. Carolyn Baker hat deren Botschaft so zusammengefasst:
Du bist aufgrund deines sündigen Zustands für die ewige Bestrafung in der Hölle bestimmt. Wenn Du Jesus als Deinen persönlichen Retter annimmst, bleibst Du von der ewigen Verdammnis verschont und wirst die Ewigkeit im Himmel verbringen. Wir bieten Dir die ewige Errettung an. Wenn Du sie annimmst, wirst Du in jeder Hinsicht gesegnet sein. Wenn Du sie ablehnst, wird Dein Leben nicht gut verlaufen, und nach dem Tod erwarten Dich ewige Qualen. Die vordergründige Botschaft lautet: “Wir sind hier, um dich zu retten und dein Leben zu verbessern.” Die verdeckte Botschaft lautet: “Wenn du dich weigerst, gerettet zu werden, wirst du vernichtet werden.”
Dazu kommt, dass Evangelikale überzeugt sind, in der Endzeit und damit kurz vor der Wiederkehr Jesu zu stehen:
Ihre eigenwillige Interpretationen des Buches der Offenbarung sowie einer Vielzahl alttestamentlicher Prophezeiungen werden routinemäßig verwendet, um denjenigen, die Jesus nicht als ihren persönlichen Retter angenommen haben, sowie ihren eigenen Glaubensbrüdern Angst einzuflößen. Die Botschaft, dass “Jesus jeden Moment wiederkommen kann”, begleitet von der Frage “Seid ihr bereit?”, ist letztlich einschüchternd und traumatisierend.
Wie traumatisierend sich ein solches “Glaubenssystem” auf ein menschliches Leben auswirken kann, haben sowohl der Zürcher Pfarrer, Psychoanalytiker und Freund von Sigmund Freud Oskar Pfister in seinem 1944 erschienenen Buch “Das Christentum und die Angst” und später der Theologe Eugen Drerwermann anhand erschütternder Schicksale eindrücklich aufgezeigt.
Der Mechanismus dahinter ist im Grunde tragisch: Wir alle besitzen, wie C.G. Jung aufgezeigt hat, neben unserem “Tagesbewusstsein” einen “Schatten”, den wir lieber im Dunkeln lassen. Aber von dort steuert er unser Leben oft mehr, als uns lieb ist. Ihn in das Bewusstsein zu heben, ist ein langwieriger und schmerzlicher, aber im wahrsten Sinn des Wortes not-wendiger Prozess, bei dem uns die Gegenwart Christi hilfreich zur Seite stehen kann. Diese hilft uns, Schritt um Schritt zu in sich selbst gefestigten Menschen zu werden, die Gott nicht mehr als eine von aussen richtende Instanz erleben, sondern als befreiende Kraftquelle im Innern. Jung sprach vom Individuationsprozess, den wir so durchlaufen:
Die Auseinandersetzung mit dem eigenen Schatten, seine Integration in die Gesamtpersönlichkeit, zählt nach Jung … zu den zentralen Aufgaben des menschlichen Reifeprozesses und stellt einen unabdingbaren Schritt auf dem Weg zur Ganzwerdung (Individuation) dar. (Wikipedia)
Im evangelikalen Glaubenssystem pervertiert sich in einem gewissen Sinne dieser Heilungsprozess. Wer nach einer mitreissenden Predigt eines evangelikalen Missionars Jesus als persönlichen Retter annimmt, kann tatsächlich eine befreiende Erfahrung machen. Aber nachher kommt es meistens nicht zu einer wahrhaft heilenden Arbeit mit dem Schatten, sondern dieser wird noch intensiver verdrängt, weil “sündige Gedanken” irgendwelcher Art das “Wiedergeborenwerden” in Jesu in Frage stellen. Und damit kommt der gefährlichste Aspekt der Schattenverdrängung ins Spiel, die Projektion:
“Wir sind die treuen Anhänger Jesu, aber da draussen wimmelt es nur so von Feinden.” Ronald Reagan, der die Evangelikalen massiv förderte, sprach von den USA als “Shining City on the Hill”, die sich — so der evangelikale Präsident George W. Bush — einer gewaltigen “Achse des Bösen” gegenübersehe. Das Gleichnis Jesu vom Balken im eigenen Auge und dem Splitter im Auge des Bruders ist in solchen evangelikalen Kreisen vollständig vergessen gegangen.
Weil bei Abermillionen die innere Autorität des eigenen Herzens und die Kraft, die volle Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen, noch nicht wirklich entwickelt ist, wird es möglich, dass ein Wolf im Schafspelz, der Kreide frisst, sich heute in den USA als von Gott gesandter Retter präsentieren kann: Donald Trump.
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