Hier folgt der zwei­te Teil der Ana­ly­se des Psy­cho­lo­gen Dan P. McA­dams, war­um Donald Trump die Hälf­te der Bevöl­ke­rung der USA eine sol­che Anzie­hungs­kraft aus­übt, dass er trotz sei­ner ekla­tan­ten cha­rak­ter­li­chen Män­geln und sei­nes hyper­tro­phen Nar­ziss­mus ein zwei­tes Mal zum Prä­si­den­ten der USA gewählt wur­de. Der Arti­kel stammt vom Febru­ar 2024, ist aber in sei­nen zen­tra­len Aus­sa­gen immer noch höchst aktu­ell. (Der ers­te Teil des Tex­tes fin­det sich hier)

1962 ver­öf­fent­lich­te ein bekann­ter Har­vard-Psy­cho­lo­ge eine wis­sen­schaft­li­che Arbeit mit dem Titel „Die Per­sön­lich­keit und Kar­rie­re Satans“. Hen­ry A. Mur­ray unter­such­te, wie west­li­che Theo­lo­gen und ande­re Schrift­stel­ler seit über 2000 Jah­ren die mythi­sche Figur des Satans dar­stel­len und ihm mensch­li­che Eigen­schaf­ten zuschrei­ben, die seit jeher als böse gelten.

Es ist erwäh­nens­wert, dass Mur­rays Cha­rak­te­ri­sie­rung des Satans eine ver­blüf­fen­de Ähn­lich­keit mit dem psy­cho­lo­gi­schen Por­trät Trumps auf­weist, das heu­te von vie­len Psy­cho­lo­gen gezeich­net wird. Ein bös­ar­ti­ger Nar­ziss­mus tobt im Kern von Satans Per­sön­lich­keit. Wegen sei­nes über­mäch­ti­gen Stol­zes aus dem Him­mel ver­sto­ßen, will Satan Gott sein, ärgert sich über die Tat­sa­che, dass er nicht Gott ist, und besteht dar­auf, dass sein höchs­ter Wert ihm Pri­vi­le­gi­en ein­räumt, die nie­mand sonst genie­ßen soll­te, wäh­rend er sei­ne Herr­schaft als Herr­scher über die Welt der Sterb­li­chen unter­mau­ert. Satan ist völ­lig ego­zen­trisch, grau­sam, rach­süch­tig und ohne Mit­ge­fühl und Empa­thie, besitzt aber den­noch ein beträcht­li­ches Cha­ris­ma und Charme. In sei­nem Umgang mit zwi­schen­mensch­li­chen Bezie­hun­gen ist er völ­lig ver­trags­ori­en­tiert und hat die Kunst des Han­dels per­fek­tio­niert, wie im Lukas­evan­ge­li­um, als Satan Jesus mit irdi­schen Mäch­ten und Reich­tü­mern als Gegen­leis­tung für sei­ne Ver­eh­rung ver­führt: „Wenn du mich anbe­test, soll alles dir gehören.“

Satan befin­det sich auf hal­bem Weg zwi­schen Gott und den Men­schen und ist eine Gren­zfi­gur. Er ist wie ein Mensch, aber nicht ganz ein Mensch. Zum einen ist er mit über­mensch­li­chen Kräf­ten aus­ge­stat­tet, wie sie sich Kin­der, schreibt Mur­ray, in den ent­le­gens­ten Win­keln ihrer Wunsch­vor­stel­lun­gen schon immer vor­ge­stellt haben. Aber er besitzt nicht bestimm­te Eigen­schaf­ten, die Erwach­se­ne beson­ders schät­zen und als Teil des Mensch­seins aner­ken­nen. Ihm fehlt es zum Bei­spiel an Weis­heit und Lie­be. Er wird nicht von einem kom­ple­xen Innen­le­ben geplagt, von Zwei­feln, Ambi­va­len­zen und mora­li­schen Dilem­mas, die rei­fe Men­schen regel­mä­ßig durch­le­ben. Statt­des­sen ähnelt er der moder­nen Vor­stel­lung eines Super­hel­den. Satan ist ein­di­men­sio­nal und mythisch, eine idea­li­sier­te Per­so­nifi­zie­rung und kei­ne voll ent­wi­ckel­te Person.

Donald Trump sieht sich selbst auf die­sel­be Wei­se. Trump besteht zwar dar­auf, dass er eine Kraft für das Gute und nicht für das Böse ist, aber er sieht sich selbst wirk­lich als qua­li­ta­tiv anders als den Rest der Mensch­heit. Er hat sich oft mit einem Super­hel­den ver­gli­chen. Er hat sich selbst als „sta­bi­les Genie“ bezeich­net, das noch nie einen Feh­ler gemacht hat. Er lügt nicht, wenn er die­se haar­sträu­ben­den Behaup­tun­gen auf­stellt, denn Trump glaubt wirk­lich dar­an, genau­so wie er glaubt, die Wahl 2020 gewon­nen zu haben.

Gleich­zei­tig ist Trump unfä­hig, sein inne­res See­len­le­ben zu beschrei­ben oder Spu­ren von Refle­xi­on, emo­tio­na­ler Nuan­cie­rung, Zwei­fel oder Fehl­bar­keit zu erken­nen. Obwohl er stän­dig über sich selbst spricht, war Trump nie in der Lage, sei­ne inne­re Welt zu erklä­ren oder Geschich­ten dar­über zu erzäh­len, wie er zu der Per­son gewor­den ist, die er ist, wie frus­trier­te Inter­view­er und Bio­gra­fen wie­der­holt fest­ge­stellt haben.

In mei­nem Buch „The Stran­ge Case of Donald J. Trump: A Psy­cho­lo­gi­cal Recko­ning“ (2020) argu­men­tie­re ich, dass es Trump an einem nar­ra­ti­ven Ver­ständ­nis sei­ner selbst in der Zeit man­gelt. Eine eta­blier­te Rich­tung der psy­cho­lo­gi­schen For­schung zeigt, dass die mensch­li­che Per­sön­lich­keit mit Erzäh­lung und Geschich­ten­er­zäh­len ver­bun­den ist. Men­schen ver­ste­hen ihr Leben als Erzäh­lun­gen, die sich im Lau­fe der Zeit ent­wi­ckeln. Aber Trump ist inso­fern eine merk­wür­di­ge Aus­nah­me, als es in sei­nem Kopf nur sehr wenig von einer Geschich­te dar­über zu geben scheint, wer er ist und wie er zu dem wur­de, was er ist. Er ist statt­des­sen das, was ich als „epi­so­dischen Men­schen“ bezeich­ne, der außer­halb der Zeit im ewi­gen Moment lebt und im Hier und Jetzt dar­um kämpft, den Kampf zu gewin­nen, Epi­so­de für Epi­so­de, Tag für Tag. Im Zen­trum von Trumps Per­sön­lich­keit liegt ein nar­ra­ti­ves Vaku­um, der Raum, in dem die selbst­defi­nie­ren­de Lebens­ge­schich­te sein soll­te, es aber nie war. Daher ist Trump sel­ten intro­spek­tiv, retro­spek­tiv oder pro­spek­tiv. Es gibt kei­ne Tie­fe, kei­ne Ver­gan­gen­heit und kei­ne Zukunft.

Der Fern­seh­kri­ti­ker der New York Times, James Ponie­wo­zik, hat fest­ge­stellt, dass der „ech­te“ Donald Trump eine Fern­sehfi­gur ist. Bei dem Ver­such, vor­her­zu­sa­gen, was Trump tun wird, warn­te Ponie­wo­zik: „Der Schlüs­sel ist, sich dar­an zu erin­nern, dass Donald Trump kei­ne Per­son ist.“ Ponie­wo­zik woll­te damit sagen, dass Trumps Ver­hal­ten nicht von den Stra­te­gien, Moti­va­tio­nen und Über­zeu­gun­gen bestimmt wird, die wir nor­ma­ler­wei­se voll­wer­ti­gen Men­schen zuschrei­ben. Wenn Sie Trump ver­ste­hen wol­len, fra­gen Sie sich Fol­gen­des: Was könn­te als Nächs­tes im Fern­se­hen pas­sie­ren? Was wür­de eine TV-Figur tun?

Ver­si­on 1.0.0

Trump spiel­te sich selbst als TV-Figur in 14 Staf­feln von „The App­ren­ti­ce“. Mil­lio­nen von Ame­ri­ka­nern lern­ten ihn durch die­se Show ken­nen und schlos­sen, wie die Kogni­ti­ons­wis­sen­schaft­le­rin Shira Gabri­el und ihre Kol­le­gen es beschrie­ben haben, eine stark emo­tio­na­le „para­so­zia­le Bin­dung“ zu Trump. Aber schon vor­her, in den 1980er Jah­ren, schärf­te Trump sei­nen Cha­rak­ter, um im Leben einen unver­wech­sel­ba­ren Trump-Prot­ago­nis­ten zu spie­len, und zwar so sehr, dass er im Lau­fe der Zeit zu einer Hel­denfi­gur wur­de: Trump ist die mäch­ti­ge Rol­le und nichts ande­res. Man spürt es in sei­ner Gegen­wart, wie es Tom Griffin 2006 tat, nach­dem er in einem schot­ti­schen Pub ein Immo­bi­li­en­ge­schäft mit Trump aus­ge­han­delt hat­te. „Es war Donald Trump, der Donald Trump spiel­te“, bemerk­te Griffin danach ver­wirrt. Er fand die Begeg­nung sehr selt­sam. Griffin schien tat­säch­lich so etwas wie onto­lo­gi­sche Ver­wir­rung zu erle­ben. Habe ich den ech­ten Trump gese­hen? Oder spiel­te er eine Rol­le? Die Ant­wort auf bei­de Fra­gen lau­tet ‚Ja!‘ Das war der ech­te Trump. Der ech­te Trump ist die Rol­le. Es gibt kei­nen ande­ren Trump. Trump ist in sei­nem Kopf und in den Köp­fen vie­ler sei­ner Anhän­ger wie ein gol­de­ner Gott: ein Super­held, der Din­ge tun kann, die kein ande­rer Mensch tun kann; ein Krie­ger, der ver­bis­sen kämpft, um jede Schlacht zu gewin­nen, und dabei völ­lig in den Moment ver­sun­ken ist. Sei­ne Iden­ti­tät ist die über­aus hel­den­haf­te Rol­le, die er im Fern­se­hen und im wirk­li­chen Leben spielt. Die Rol­le ist cha­ris­ma­tisch und fas­zi­nie­rend, aber sie ist auch begrenzt, wie jede ein­zel­ne Rol­le es sein muss, denn die meis­ten Men­schen sind mehr als eine ein­zi­ge Rolle.

Der Trump-Anhän­ger und rech­te Pro­vo­ka­teur Ste­ve Ban­non beschrieb Trump ein­mal als „den Rain Man des Natio­na­lis­mus“. Ban­non bezog sich dabei auf den Film von 1988 über einen autis­ti­schen Savant, gespielt von Dus­tin Hoff­man. Wie der Rain Man könn­te Trump als Mensch mit Defi­zi­ten in bestimm­ten grund­le­gen­den mensch­li­chen Fähig­kei­ten wahr­ge­nom­men wer­den. Indem er die Trump-Per­so­na von gan­zem Her­zen annimmt, räumt Trump impli­zit ein, dass es Berei­che mensch­li­cher Erfah­rung gibt, von denen er eini­ge als Schwä­chen abtun könn­te, die ihm völ­lig fremd sind. Dazu gehö­ren die meis­ten Pflich­ten der Eltern­schaft und enger Freund­schaf­ten, das Zei­gen von Mit­ge­fühl für ande­re in Zei­ten der Not, das Aus­drü­cken von Treue zu einer Sache, die über das Selbst hin­aus­geht, und das Wahr­neh­men von Kom­ple­xi­tät und Ambi­va­lenz im Leben. Als sol­ches ist sei­ne Per­sön­lich­keit begrenzt, ein­ge­schränkt, beschränkt, unvoll­stän­dig. Aber das macht nichts, denn der Rain Man hat unglaub­li­che beson­de­re Kräf­te – sei­en sie gott­gleich oder das Werk des Teufels.

Vie­le von Trumps Anhän­gern neh­men Trump so wahr, wie Trump sich selbst wahr­nimmt. In ihren Augen ist er eine Gren­zfi­gur, in gewis­ser Wei­se über­mensch­lich, aber auch ohne bestimm­te Eigen­schaf­ten, die die meis­ten Men­schen, im Guten wie im Schlech­ten, besit­zen. Eine Gren­zfi­gur, die mehr als eine Per­son ist, aber auch weni­ger als eine Per­son, unter­liegt mög­li­cher­wei­se nicht den Regeln und Even­tua­li­tä­ten, die für nor­ma­le Men­schen gel­ten. Kon­ven­tio­nel­le Nor­men der Recht­schaf­fen­heit und des Anstands gel­ten nicht.

In den Augen sei­ner Anhän­ger besitzt Trump außer­ge­wöhn­li­che Kräf­te, die er für das Gute und gegen das Böse ein­setzt. Wen küm­mert es, dass er Feh­ler hat? Was macht es schon, wenn ihm bestimm­te typisch mensch­li­che Eigen­schaf­ten feh­len? Was macht es schon, dass er unhöflich, auto­ri­tär oder sogar kri­mi­nell ist?

Tat­säch­lich sind Trumps Feh­ler oder Män­gel ein wesent­li­cher Bestand­teil sei­ner Groß­ar­tig­keit. Sie zei­gen, dass er der Son­der­fall ist, für den Aus­nah­men gemacht wer­den müs­sen. Sie könn­ten sogar dar­auf hin­deu­ten, dass er für ein beson­de­res Schick­sal bestimmt ist oder das Instru­ment eines gött­li­chen Plans ist.

Der drit­te und letz­te Teil erscheint am kom­men­den Don­ners­tag, den 21. November.

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