Am 30. Novem­ber 2023 ver­öf­fent­lich­te Robert Kagan, ein bekann­ter “Neo­con” — also ein Ver­tre­ter einer kon­ser­va­ti­ven, oft aggres­si­ven ame­ri­ka­ni­schen Aus­sen­po­li­tik — in der Washing­ton Post ein Essay, das anschlies­send heiss dis­ku­tiert wur­de: “A Trump dic­ta­tor­ship is incre­asing­ly ine­vi­ta­ble. We should stop pre­ten­ding”,  auf gut deutsch etwa: Eine Trump­dik­ta­tur ist im Anmarsch. Macht end­lich die Augen auf!

Inzwi­schen hat sich die Dyna­mik des Wahl­kampfs dank des Wech­sels des demo­kra­ti­schen Prä­si­dent­schafts­kan­di­da­ten von Joe Biden zu Kama­la Har­ris ver­än­dert und lässt erneut Hoff­nung kei­men, dass Donald Trump im Novem­ber eine Nie­der­la­ge erlei­det. Das Pro­blem: Sei­ne Nie­der­la­ge kann gemäss Trump nur das Resul­tat von Wahl­fäl­schun­gen sein. Die Kon­se­quenz die­ser abstru­sen Idee steht (noch) in den Sternen …

Robert Kagan hat vor kur­zem ein neu­es Buch ver­öf­fent­licht: “Rebel­li­on. How Anti­li­be­ra­lism is Tearing Ame­ri­ca Apart Again” — mit Beto­nung auf “again”. Es ist inso­fern eine span­nen­de Lek­tü­re, als er die jet­zi­ge Pola­ri­sie­rung in der ame­ri­ka­ni­schen Poli­tik nicht als ein noch nie dage­we­se­nes poli­ti­sches Phä­no­men betrach­tet, son­dern nur als Zuspit­zung einer gesell­schaft­li­chen Grund­strö­mung in den USA, die im Grun­de seit deren Grün­dung vor­han­den war. In sei­ner Ein­lei­tung zum Buch heisst es u.a.:

Die Insti­tu­tio­nen, die die Grün­der Ame­ri­kas geschaf­fen haben, um eine libe­ra­le demo­kra­ti­sche Regie­rung zu schüt­zen, kön­nen nicht über­le­ben, wenn die Hälf­te des Lan­des nicht an die Grund­prin­zi­pi­en glaubt, auf denen sie beru­hen. Die Prä­si­dent­schafts­wah­len von 2024 wer­den daher nicht der übli­che Wett­streit zwi­schen Repu­bli­ka­nern und Demo­kra­ten sein. Sie ist ein Refe­ren­dum dar­über, ob die aus der Revo­lu­ti­on her­vor­ge­gan­ge­ne Demo­kra­tie fort­be­stehen soll oder nicht. Heu­te rebel­lie­ren Aber­mil­lio­nen Ame­ri­ka­ner gegen die­ses Sys­tem. Sie haben Donald Trump zu ihrem Anfüh­rer gemacht, weil sie glau­ben, dass er sie von dem befrei­en kann, was sie als libe­ra­le Unter­drü­ckung der ame­ri­ka­ni­schen Poli­tik und Gesell­schaft anse­hen. Wenn er gewinnt, wer­den sie alles unter­stüt­zen, was er tut, ein­schließ­lich der Ver­let­zung der Ver­fas­sung, um gegen sei­ne Fein­de und poli­ti­schen Geg­ner vor­zu­ge­hen, — was er zu tun ver­spro­chen hat. Ver­liert er, wer­den sie das Ergeb­nis ableh­nen und sich wei­gern, die Legi­ti­mi­tät der Bun­des­re­gie­rung anzu­er­ken­nen, so wie es der Süden 1860 tat. So oder so wird die libe­ra­le poli­ti­sche und sozia­le Ord­nung Ame­ri­kas zer­bre­chen, viel­leicht sogar unwiederbringlich.

Obwohl die­se Kri­se bei­spiel­los zu sein scheint, ist der Kampf, der die Nati­on heu­te zer­reißt, so alt wie die Repu­blik. Die Ame­ri­ka­ni­sche Revo­lu­ti­on hat nicht nur ein neu­es Regie­rungs­sys­tem her­vor­ge­bracht, das sich den Schutz der Rech­te aller Indi­vi­du­en gegen­über der Regie­rung und der Gemein­schaft zum Ziel gesetzt hat. Sie rief auch eine Reak­ti­on gegen eben die­se libe­ra­len Prin­zi­pi­en her­vor, von Skla­ven­hal­tern und ihren wei­ßen Anhän­gern, von reli­giö­sen Bewe­gun­gen, von vie­len Ame­ri­ka­nern, die ver­sucht haben, alte, tra­di­tio­nel­le Hier­ar­chien von Völ­kern und Glau­bens­rich­tun­gen gegen die nivel­lie­ren­de Kraft des Libe­ra­lis­mus zu bewah­ren. Die­ser Kampf zwi­schen Libe­ra­lis­mus und Anti­li­be­ra­lis­mus hat die inter­na­tio­na­le Poli­tik in den letz­ten zwei Jahr­hun­der­ten geprägt und beherrscht auch heu­te die inter­na­tio­na­le Sze­ne. Der glei­che Kampf wird aber auch inner­halb des ame­ri­ka­ni­schen Sys­tems seit der Zeit der Revo­lu­ti­on ausgetragen.

Die Vor­stel­lung, dass sich alle Ame­ri­ka­ner den Grün­dungs­prin­zi­pi­en der Nati­on ver­pflich­tet füh­len, war schon immer ein ange­neh­mer Mythos oder viel­leicht sogar eine noble Lüge. Wir zie­hen es vor zu glau­ben, dass wir alle die glei­chen grund­le­gen­den Zie­le haben und uns nur über die Mit­tel zur Errei­chung die­ser Zie­le unei­nig sind. Tat­säch­lich aber hat eine gro­ße Zahl von Ame­ri­ka­nern die Behaup­tung der Grün­der­vä­ter, dass alle Men­schen gleich geschaf­fen sind und “unver­äu­ßer­li­che” Rech­te auf Leben, Frei­heit und das Stre­ben nach Glück haben, stets abge­lehnt und sich beharr­lich dage­gen gewehrt, dass die­se libe­ra­len Wer­te ihrem Leben auf­ge­zwun­gen werden.

Vie­le Ame­ri­ka­ner haben seit der Revo­lu­ti­on den Wunsch, Ame­ri­ka in eth­nisch-reli­giö­ser Hin­sicht als eine grund­sätz­lich wei­ße, pro­tes­tan­ti­sche Nati­on zu sehen, deren Cha­rak­ter aus der wei­ßen, christ­li­chen, euro­päi­schen Zivi­li­sa­ti­on erwach­sen ist. Ihr Ziel war es, eine wei­ße, christ­li­che Vor­herr­schaft zu bewah­ren, die im Gegen­satz zur Visi­on der Grün­der stand, und sie haben den Libe­ra­lis­mus der Grün­der und die Funk­ti­ons­wei­se des demo­kra­ti­schen Sys­tems nur dann tole­riert, wenn er die­se Sache nicht unter­gra­ben hat. Wenn dies der Fall war, haben sie wie­der­holt dage­gen rebelliert.

Eine gera­de Linie ver­läuft vom skla­ven­hal­ten­den Süden Anfang bis Mit­te des neun­zehn­ten Jahr­hun­derts zum Süden nach der Wie­der­ver­ei­ni­gung des spä­ten neun­zehn­ten und frü­hen zwan­zigs­ten Jahr­hun­derts, zum zwei­ten Ku-Klux-Klan der zwan­zi­ger Jah­re, zu den Dixie­kra­ten der vier­zi­ger und fünf­zi­ger Jah­re, zu Joseph McCar­thy und der John Birch Socie­ty der fünf­zi­ger und sech­zi­ger Jah­re und zur auf­kei­men­den christ­lich-natio­na­lis­ti­schen Bewe­gung der letz­ten Jahre.

Unan­ge­neh­me Ein­sich­ten … Des­halb blei­ben wir auch am nächs­ten Don­ners­tag, den 29. August bei Robert Kagan.

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