Dieser Aufruf findet sich im Vorwort zur Broschüre Troxlers “Die Verfassung der Vereinigten Staaten Nordamerika’s als Musterbild der Schweizerischen Bundesreform”, die anfangs 1848 erschien. Sie gab den entscheidenden Anstoss für die Entstehung der Bundesverfassung von 1848: Troxler wurde “de facto zu einem Geburtshelfer des neuen Staates und der neuen Verfassung” (D. Furrer), — allerdings, wie wie noch sehen werden, unter ziemlich dramatischen Umständen!
Doch werfen wir zuerst einen Blick zurück. Schon 1828 hatte er in der Appenzeller Zeitung im Hinblick auf eine Erneuerung des Bundes festgehalten: “Die Nordamerikanischen Freistaaten und andere Republiken sind uns mit ihrem Beispiel vorangegangen, und da die Erfahrung für eine solche Verfassung spricht, so dürfen wir uns der Nachahmung umso weniger scheuen, als wir zu der Einsicht gelangt sein müssen, daß ein Bund von 22 souveränen Ständchen ein Unding ist, und einem Kartenhaus gleich, das jämmerlich zusammen stürzt, sobald es von einem kräftigen Finger berührt wird.”
1832 schrieb er in “Verderbnis und Herstellung der Eidgenossenschaft”: „Nordamerika steht da als grosses leuchtendes und lehrreiches Beispiel einer Eidgenossenschaft mit Bundesverfassung und der Verbindung der Centralität mit Föderalismus. Nordamerika schwebt vor, Beispiel einer göttlich-menschlichen Gesellschaftsschöpfung, welche die ganze alte Welt nicht kannte, und deren wunderbarer Bau als der Bau eines heiligen Doms der Republiken der neuen Welt noch viel zu wenig ergründet und verstanden ist.”
Aber die Zeit war damals noch nicht reif gewesen. Jetzt — nach der blutigen Auseinandersetzung zwischen den regenerierten und den konservativen Orten — bot sich die Chance, den Graben zwischen den feindlichen Brüdern vielleicht mit einer neuen und ausgewogenen Verfassung zu schliessen. Eine Revisionskommission mit radikalen, liberalen und konservativen Vertretern sollte in Bern “das Ei des Kolumbus” finden.
Doch erneut kam Sand in das Getriebe der Verhandlungen, erneut drohte das Projekt zu scheitern, wie die dramatische Schilderung des Schwyzer Gesandten Melchior Diethelm — ein ehemaliger Troxler-Schüler am Lyzeum Luzern — zeigt:
“Die Beratungen der Kommission dauerten längere Zeit, vielseitige Projekte durchkreuzten einander; Kantonalität und Nationalität stritten sich um die Oberherrschaft. Jeder Tag brachte ein anderes Projekt. Der Kampf fing an bitter zu werden, …, es kam so weit, daß die Versammlung am Punkt war, sich unverrichteter Dinge aufzulösen und der Tagsatzung den trostlosen Bericht zu geben, daß man nichts zu schaffen imstande sei.
In diesem kritischen Moment eilte Diethelm zu seinem alten Lehrer und liess sich von ihm die neue Broschüre geben. Diethelm weiter:
Gerade im Moment dieser Ratlosigkeit wagte ich es, meine schwache Stimme zu erheben; ich mahnte die Versammlung an die hohe Verantwortlichkeit, welche sie gegenüber der schweizerischen Nation trage, und an die Schande, der sie verfalle, wenn sie die günstigste Zeit unbenutzt lassend, unter Zank davon laufe. Ich erinnerte an die Nordamerikaner, welche in verzweifelter Lage sich in dem Zweikammersystem gerettet haben. An diese Erinnerung knüpfte ich den Wunsch, daß man sich mit der Idee des Zweikammersystems befasse, wodurch die Nationalen und die Kantonalen ihre Geltung erhalten würden. Viele von den Anwesenden erstaunten ob dieser Stimme aus der Wüste (= Kanton Schwyz). Die meisten schienen achselzuckend auf mich hinunter zu blicken, aber keiner wagte es, mir gegenüber aufzutreten, es herrschte einige Zeit lautlose Stille.
Endlich brach der edle Munzinger das Stillschweigen, mahnte die Versammlung, sie soll die von mir aufgestellte Idee einer ernsten Prüfung würdigen. Man habe bisher alles andere versucht, es sei nun schlicht auf die Friedensstimme zu hören. Er stellt den Antrag, für diesen Tag die Sitzung aufzuheben, damit jedes Mitglied im stillen Kämmerlein dem nachdenke, was not (zu) tun, und namentlich die aufgewiesene Idee des Zweikammersystems ruhig und unbefangen prüfe. Dieser Antrag wurde stillschweigend einstimmig genehm gehalten und die Mitglieder vertagten die Sitzung bis auf den kommenden Tag. Mittlerweile erhielt ich Gelegenheit dem Herrn Munzinger das von Hr. Dr. Troxler herausgegebene Schriftchen über die Nordamerikanische Verfassung zu leihen.”
Das war der entscheidende Durchbruch: Diethelm als Vertreter eines unterlegenen Sonderbund-Kantons hatte zuwenig Gewicht in den Verhandlungen, der Solothurner Liberale Josef Munzinger hingegen schon. Munzinger wollte von der Schrift Troxlers vorerst allerdings nichts wissen, da “viel zu doktrinär”, — doch die Lektüre stimmte ihn um. Am folgenden Tag brach sich die Idee des parlamentarischen Zweikammersystems definitiv die Bahn, und zur völligen Verblüffung vieler Kommissionsmitglieder erhielt sie bei der Abstimmung die seltene Mehrheit von 17 Stimmen. “Wie vom Himmel gefallen” — meinte der Zürcher Vertreter Jonas Furrer., worauf Munzinger freudig bewegt geantwortet haben soll: “Gewiss ist dieser Beschluss vom Himmel gefallen, und es war der Tag des Niklaus von Flüe!”
Troxlers Biograf Emil Spiess hält sicher zu Recht fest: “Im entscheidenden Augenblick hat sich Traxlers große politische Idee unter seiner diskreten Mitwirkung durchgerungen; es war dem unermüdlichen Kämpfer vergönnt, als anregender Mitarbeiter im Hintergrund an der wichtigsten Errungenschaft unserer Bundesverfassung die segensreiche Entwicklung des Bundesstaates in den kommenden Jahrzehnten mitzubestimmen. Das ist der größte Erfolg seines Lebens.”
In der nächsten Folge zu Troxlers Leben und Wirken werfen wir noch einen Blick auf dessen letzte Lebensjahre und schliessen mit einer Gesamtwürdigung dieser eindrücklichen Persönlichkeit.
Nachtrag Januar 2023: Inzwischen hat der Journalist Rolf Holenstein in seinem über 1000 Seiten umfassenden 2018 erschienenen Buch “Stunde Null. Die Neuerfindung der Schweiz im Jahre 1848. Die Privatprotokolle und Geheimberichte der Erfinder” an obiger Darstellung geringfügige Korrekturen angebracht, die entscheidenden Rolle Troxlers aber vollumfänglich bestätigt.
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