In Luzern hatte nach dem Sturz Napoleons eine Allianz von Aristokraten und eher liberal gesinnten Stadtbürgern die politische Macht an sich gerissen. Unterstützt wurde sie vom Klerus, der jeweils die obrigkeitlichen Verordnungen von der Kanzel verkündete und das Schulwesen kontrollierte.
Als Ende 1816 der liberale Eduard Pfyffer, ein Nachkomme des legendären „Schweizerkönigs“ und Begründer des Luzerner Patriziats Ludwig Pfyffer, in den Erziehungsrat gewählt wurde, schlug die Stunde Troxlers. Neben Troxler holte Pfyffer übrigens auch den ebenfalls aus Beromünster stammenden Joseph Eutych Kopp nach Luzern. Kopp war der erste Historiker, der aufgrund eines akribischen Quellenstudiums ein völlig neues Bild der Gründung der Eidgenossenschaft und der Rolle der Habsburger zeichnete, das der traditionellen Befreiungssage widersprach.
Troxler erhielt am Lyzeum den Lehrstuhl der allgemeinen und vaterländischen Geschichte und denjenigen der Philosophie und stürzte sich mit Feuereifer in die neue Arbeit. Offensichtlich wusste er seine Schüler zu begeistern, wie wir anlässlich seines Absetzungsdramas noch sehen werden. Aber sogar ihn drohte die Anstrengung zweier Lehrstühle zu überfordern. Das macht seine Eingabe an die Erziehungsbehörde nach dem ersten Jahr deutlich:
„Ein volles Jahr unsäglicher Mühe überzeugte mich nun aber, dass sechs Fächer der Philosophie wovon jedes ein eignes grosses Studium ausmacht, und die allgemeine Geschichte Jahr aus Jahr ein vorzutragen die Kräfte eines jeden einzelnen Lehrers übersteige, und wirklich hat mich nur Liebe zur Wissenschaft und vaterländischen Jugend, das mir geschenkte hohe Zutrauen, und die Rücksicht auf die schön aufblühende Anstalt aufrecht erhalten. Die Verzichtung auf jede freie Musse, und allen Lebensgenuss, den Aufwand meiner besten Kräfte und vielleicht selbst eines Teils meiner Gesundheit hab ich nicht in Anschlag gebracht. …“
Mit Pfyffer zusammen machte sich Troxler auch daran, das gesamte Erziehungswesen zu reorganisieren. Unter anderem war geplant, das sogenannte „Klassensystem“ (ein Lehrer, d.h. ein Geistlicher, unterrichtet sämtliche Fächer in einer Klasse) durch das heute übliche „Fächersystem“ (mehrere Fachlehrer unterrichten ihre Fächer in mehreren Klassen) abzulösen. Damit machte er sich allerdings den Luzerner Klerus, der sich gegen Troxlers „revolutionäre“ Philosophie wandte und ihn als „Gottesleugner“ diffamierte, zum erbitterten Feind. Und — oh Schreck — Troxlers Studenten turnten!! — was denn auch gleich in Luzern verboten wurde.
Ein Machtkampf zwischen den restaurativen und liberalen Elementen bahnte sich an. Zwei Ereignisse führten schliesslich dazu, dass Troxler schon nach zwei Jahren unehrenhaft entlassen wurde: die Einweihung des Löwendenkmals im August 1821 und die Publikation seiner Streitschrift „Fürst und Volk nach Buchanans und Miltons Lehre“.
Der Luzerner Karl Pfyffer, ein weiterer Nachkomme des „Schweizerkönigs“, der in die Fussstapfen seines berühmten Ahnen getreten war und noch mit Napoleon in Paris in der Militärschule die Schulbank gedrückt hatte, hatte die Idee, zu Ehren des heldenhaften Widerstands der Schweizergarde bei der Verteidigung der Tuilerien 1792 im In- und Ausland Geld für ein Denkmal in Luzern zu sammeln. Aufgrund der Vorlage eines dänischen Bildhauers wurde in Pfyffers Garten schliesslich der „sterbende Löwe“ aus dem Felsen herausgehauen, der bald auch im Ausland bekannt und berühmt wurde.
Die Liberalen und mit ihnen Troxler betrachteten ihn allerdings lediglich als Sinnbild für die veraltete monarchische Ordnung und als sinnlose Verherrlichung des Söldnerwesens, das mit den Kapitulationen (offiziellen Söldnerverträgen) mit Spanien, Holland, Frankreich und Sizilien immer noch aktuell war.
Während also die restaurative Fraktion Luzerns bei strömenden Regen das Monument einweihte, zog eine Gruppe von Troxlers Studenten demonstrativ zur Tellskapelle, um an die wahren nationalen Wert der Eidgenossenschaft zu erinnern. Ein Teilnehmer berichtete später: „Sobald wir gelandet waren, begaben wir uns in die Hohle Gasse, umlagerten Tells Kapelle, feierten sein Andenken mit einer Rede und mit einem Festmahl und wünschten ganz Europa einen Befreier, wie es Tell für die Schweiz gewesen war“. Sicher sangen sie damals auch das von Franz Josef Greith komponierte Rütli-Lied: “Von ferne sei herzlich gegrüsset ..”
Die meisten der Studenten gehörten zum mit der Mithilfe Troxlers kürzlich gegründeten Zofingerverein, der seit dem Verbot der Burschenschaften in Deutschland wegen der Ermordung des Dramatikers Kotzebue durch einen Studenten unter besonderer internationaler Beobachtung stand. Geheime Polizeispione schwärzten Troxler in Wien als höchst gefährlichen Revolutionär an. Eine weitere Meldung nahm das Gerücht auf, Troxler habe an der Tellskapelle den Schwur erneuern lassen, die ursprüngliche Freiheit der Schweiz wieder herzustellen, die durch die aristokratischen Privilegien entstellt worden sei.
Dem Fass den Boden schlug dann allerdings Troxlers „Fürst und Volk“ aus, auf deren Inhalt ich in der nächsten Folge eingehe. Die restaurative Partei warf Troxler vor, er stelle die Regenten als Tyrannen dar, rufe zum Tyrannenmord auf und gefährde Ruhe und Ordnung in der ganzen Schweiz. Eines Tages lauerte man ihm sogar auf und suchte ihn zu verprügeln. Er schilderte später selber: „Meine Nächte waren wochenlang gar sehr unruhig. Ich musste mein Haus bewachen. Nie schlief ich von 11 bis 3 oder 4 Uhr des Morgens. Auch war immer viel Bewegung in dieser Gegend. Es liefen bezahlte Buben, die mir die Fenster einwerfen oder sonst was Leids zufügen sollten oft die halbe Nacht hin und her […] ich [fand es] nötig alle Nacht mehrere Stunden mit ein paar geladenen Pistolen zur Seite auf dem Nachttisch und einem Knotenstock zu wachen.“
Nach einem intensiven Machtkampf innerhalb der Regierung siegten die Konservativen, und Troxler hielt im September 1822 das Entlassungsschreiben in Händen.
Welch tiefen Eindruck Troxler in seiner kurzen zweijährigen Lehrzeit auf seine Schüler machte, zeigt die Ansprache des Zofingia-Präsidenten Basil Curti nach dessen Entlassung: „Wir lagen in Nacht und Schlaf versunken; der Geistesniederschlag, seit langer Zeit durch Aristokraten und Papsttümler auf alle mögliche Weise verbreitet, hatte sich vorzüglich auch der studierenden Jugend bemächtigt und jedes bewußte, lebendige Streben derselben gehindert. Ich weiß nicht, womit wir die glückliche Fügung des Himmels verdient, wodurch Sie uns gegeben wurden. — Ihre Rede von der Hoheit des Menschen, von Einigkeit seines Wesens in sich, von einem geistigen Leben, von Selbstbewußtsein, Selbstbestimmung, von Religion, Gott, Vaterland erschütterte wundersam wie eine heilige Mahnerstimme unsere Herzen, und wir erwachten. ..“ Wer den ganzen bewegenden Text lesen möchte, findet ihn hier als PDF: Rede Curti.
Curti überreichte der Regierung im Namen seiner Mitstudenten auch eine Bittschrift, dessen Anfang hier zitiert werden soll, um zu zeigen, wie man sich damals an die Obrigkeit zu richten hatte:
„Hochwohlgeborene, hochzuverehrende Herren Schultheiße! Hochwohlgeborene, hochzuverehrende Herren Kleine und Grosse Räte der Stadt und Republik Luzern!
Nur mit großer Schüchternheit wagt ein Jüngling, beauftragt und ermuntert von vielen andern, die sich mit ihm den Wissenschaften geweiht haben, eine ehrfurchtsvolle Bitte. Ist es doch auch Kindern gestattet, denen ein treuer Vater entrissen worden ist, zur höchsten Landesobrigkeit die bittende Hand auszustrecken. Und ein Vater ist uns unser unvergeßlicher Lehrer, Herr Dr. Troxler, gewesen, welcher nun seinen Schülern durch den Entscheid des hohen Täglichen Rates vom 17. Herbstmonat dieses Jahres vielleicht auf immer und, weil er angeklagt, aber nicht verhört wurde, auf eine im In- und Auslande Aufsehen und Erstaunen erregende Weise entrissen worden ist. …“
Obwohl Curti mit der Formel schloss: „In tiefer Ehrfurcht verharren wir unserer Hochwohlgeborenen, hochgeachteten Herren Schultheißen und Räte der Stadt und Republik Luzern untertänigste Diener und in deren Namen Ferdinand Curti, stud. philos.“, beschloss die Regierung, Curti von den höheren Schulen Luzerns auszuschliessen und ihn aus dem Kanton wegzuweisen.
Die Restauration hatte gesiegt. Troxler stand erneut vor einem Scherbenhaufen. Freunde von ihm sondierten für einen Lehrstuhl der Philosophie in Basel oder in Freiburg im Breisgau, doch der lange Arm der metternich’schen Polizei wusste das zu verhindern. Aus dem Protokoll eines Polizeiagenten: „Troxler, unter den Schriftstellern der Schweiz vielleicht der gefährlichste, hat sich durch seine Schrift „Fürst und Volk“ … wohl sattsam beurkundet. … Daß er, ohne gehört zu werden, verurteilt und seiner Professur entsetzt wurde …, hat besonders in der Schweiz ein gewaltiges Aufsehen und Troxler viele neue Freunde gemacht, die ihn als ein Opfer der Willkür, als einen Märtyrer des in Europa jetzt herrschen sollenden Despotismus betrachten, bewundern und viel von seinem beleidigten Ehrgefühl erwarten“.
Damit hatte er, wie wir in der nächsten Folge sehen werden, durchaus recht …
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