Damit hat Weltwoche-Herausgeber und Chefredaktor Roger Köppel wahrscheinlich nicht gerechnet: Am selben Tag, als besagtes Blatt zum grossen Loblied auf Russlands Herrscher ausholt, überfällt dieser gegen geltendes Völkerrecht kaltschnäuzig und mit einer paranoiden Begründung sondergleichen das Nachbarland Ukraine.
Warum man Putin verstehen muss, erklärt uns der Leitartikel besagter Nummer mit dem Titel: Putins Krieg um Russlands Seele. Was denn unter “Russlands Seele” zu verstehen sei, wird aus dem Text zwar nicht so recht ersichtlich. Tolstoi? Dostowjewski? Solowiew? Berdjajew? Bulgakow? Die Starzen? — Fehlanzeige. Vielleicht eher der antisemitische Zar Alexander III., der Gründer der Geheimpolizei Ochrana und der sibirischen Straflager, — und laut Weltwoche Putins Vorbild?
Angesichts dieser vertrackten Fragestellung muss der Chefredaktor persönlich her, um unserem Verständnis in “Kleine Psychologie der Putin-Kritik” auf die Sprünge zu helfen:
Machtpokerer Putin … ist eine wandelnde Kriegserklärung an den Zeitgeist, an die “Woke”- und “Cancel-Culture”, der unsere Intellektuellen und viele unserer Politiker so inbrünstig huldigen. Instinktiv spüren sie, dass vom Polit-Macho aus dem Osten eine Gefahr, eine Bedrohung für ihr Weltbild ausgeht, die Verneinung all dessen, was sie für Wahrheit halten. … Putin entlarvt den hohlen Moralismus seiner Gegner. Und die Dekadenz des Westens. Während sich unsere Politiker damit befassen, ob Minderjährige ohne Einwilligung der Eltern bei der Einwohnerkontrolle für siebzig Franken ihr Geschlecht abändern dürfen, fährt Putin mit seinen Panzerdivisionen auf.
Wow! Was für eine Liebeserklärung! Endlich jemand, der sagt, was Sache, und tut, was eines echten Mannes würdig ist!
Während des Abtippens dieses eindrücklichen Köppel’schen Bekenntnisses hatte ich plötzlich ein Déjà-Vu-Erlebnis: Ganz ähnlich tönte es 2016 aus dem Büro des Weltwoche-Chefs. Nur dass es damals nicht um Vladimir Putin, sondern um Donald Trump ging. Dass dieser heute Putins Vorgehen “genial” und “schlau” nennt, wen wundert’s?
Schlechten Gewissens wagt es der birsfaelder.li-Schreiberling dennoch, auf einen üblen Artikel aus der verachtenswerten Mainstream-Presse hinzuweisen: “Putins globale Rechte desmakiert sich selbst”. Honni soit qui mal y pense: reiner Zufall, dass dort das Stichwort “Weltwoche” auftaucht …
P.S. Der Verfasser des Artikels, Christian Stöcker, publizierte letztes Jahr “Das Experiment sind wir”. Das birsfaelder.li widmete dem spannenden Buch letztes Jahr eine kleine Artikelserie.
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