Als Goethe Friedrich Schiller anbot, diesem die von ihm entdeckte Tellsage abzutreten, lehnte Schiller bekanntlich dankend ab. Er steckte mitten in der Arbeit zu seiner “Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande von der spanischen Regierung”. Erst als sich die Gerüchte verdichteten, Schiller arbeite im Geheimen an einem Tell-Schauspiel, begann er sich für den Stoff zu interessieren. Der Rest ist ebenfalls Geschichte …
Interessanterweise sorgte ein anderer Dichter dafür, dass auch die niederländischen Provinzen — die damals auch das heute belgische Flandern umfassten — ihren Freiheitshelden bekamen, nämlich kein anderer als unseren Till Eulenspiegel! Der Name des Dichters: Charles de Coster. Sein Werk “Die Legende und die heldenhaften, fröhlichen und ruhmreichen Abenteuer von Ulenspiegel und Lamme Goedzak” mauserte sich — ganz ähnlich wie Schillers Tell für die Schweiz — zum flämischen Nationalepos.
De Costers Thyl Ulenspiegel erreichte zwar nicht ganz die internationale Ausstrahlung unseres Tell, aber Schriftstellerkollegen waren des Lobes voll: Stefan Zweig nannte den Roman “ein unvergessliches und unvergängliches Werk”. Alfred Döblin stellte den Autor sogar über Balzac, Flaubert und Tolstoi und meinte: „Dieses herrliche vielgeliebte Werk ist längst aus der Ebene der Kunsterzeugnisse in die der Volksbücher aufgerückt“, und sein erster Übersetzer ins Deutsche — das Original ist in Französisch — fragte sich: „Wohin soll man dieses Buch stellen? Soll man ihn stellen zum Shakespeare und Dante oder zu Dostojewski und Hamsun? Sicherlich zu den zehn Bänden, die man bei sich haben will, wenn man nicht die ganze Bücherkiste mit sich schleppen mag.“ Fürwahr ein literarisches Adelsprädikat erster Güte!
Wer war dieser Charles de Coster? Romain Rolland schrieb über ihn: “„Ein Zeitungsschreiber, arm und ohne Namen, hat fast vor unseren Augen ein Denkmal aufgerichtet, das mit Don Quijote und Pantagruel wetteifern darf“. Und er hat damit nicht ganz unrecht: Als Journalist, Freimaurer, Herausgeber der Zeitschrift “Uylenspiegel, journal des ébats littéraires et artistiques” und zeitweise Dozent an der Militärschule in Brüssel arbeitete de Coster zehn Jahre lang stetig und unverdrossen, von Schulden bedrängt und am Hungertuch nagend, an seinem Epos.
Auch als sein Thyl Ulenspiegel 1867 endlich das Licht der Welt erblickte, reichte der Erlös nicht, um den Schuldenberg abzubauen. De Coster starb 1879 in bitterer Armut. Erst mit einer neuen Ausgabe 1893 begann der Siegeszug des Romans. Davon zeugt das Denkmal, das 1894 in Ixelles, wo sich de Costers Grab befindet, errichtet wurde. Über einem Portrait des Autors und den Bronzestatuen Thlys und seiner geliebten Nele steht:
“Est-ce qu’on enterre Ulenspiegel, l’Esprit?
Nele, le Coeur de la Mère Flandre?
Was macht die Faszination von de Coster’s Ulenspiegel aus?
Es ist die geniale Idee, die anarchische und freiheitsliebende Figur aus dem Eulenspiegel-Volksbuch hineinzuversetzen in die wohl dramatischste und blutigste Episode in der Geschichte der Niederlande, nämlich den Unabhängigkeitskampf im 80-jährigen Krieg gegen Spanien, — gleichzeitig ein Religionskrieg gegen die von Spanien protegierte Katholische Kirche. Es war ein Kampf gegen Despotie für politische und religiöse Freiheit. Wer Genaueres wissen will, findet auf Wikipedia eine gute Zusammenfassung. Friedrich Schiller hat übrigens mit seinem Drama “Don Karlos” auf seine Weise Bezug auf jene Auseinandersetzung genommen.
Im Westfälischen Frieden 1648 erlangten schliesslich sowohl die Niederlande als auch die Schweiz gleichzeitig ihre rechtliche Unabhängigkeit vom Heiligen Römischen Reich.
Doch nun zu Thyl Ulenspiegel selber:
“Zu Damme in Flandern, als der Mai die Blüten des Hagedorns entfaltete, wurde Ulenspiegel, der Sohn des Claes, geboren. Die Gevatterin, eine weise Frau namens Katheline, hüllte ihn in warme Windeln, besah seinen Kopf und zeigte auf ein Haarbüschel. »Behaart! Er ist unter einem guten Stern geboren!« rief sie freudig aus. Aber gleich darauf klagte sie und wies auf einen kleinen schwarzen Punkt auf der Schulter des Kindes: »Ach«, heulte sie, »das ist das schwarze Stigma der Klaue des Teufels!« Da antwortete Claes: »Sollte der Herr Satan schon so früh aufgestanden sein, daß er Zeit hatte, meinen Sohn zu zeichnen?« »Er hat sich gar nicht niedergelegt«, sagte Katheline, »denn Chanteclair weckt eben die Hennen.« Und sie ging hinaus, nachdem sie das Kind in Claesens Arme gelegt hatte.
Nun zerriß das Morgenrot die nächtlichen Wolken, die Schwalben schossen schreiend über die Felder dahin, und die Sonne zeigte ihr purpurn strahlendes Antlitz am Horizont. Claes öffnete das Fenster und sprach zu Ulenspiegel. »Haarichter Sohn«, sagte er, »dies ist die ehrwürdige Sonne, die kommt, das Land Flandern zu begrüßen. Sieh sie dir an, wenn du kannst, und solltest du einmal nicht aus und ein wissen und, von Zweifeln erfüllt, nicht erkennen, was du tun sollst, um gut zu tun, so bitte sie um Rat, sie ist klar und warm. Deine Aufrichtigkeit gleiche ihrer Klarheit und deine Güte ihrer Wärme.«
»Claes, mein Mann«, rief da Soetkin, »du predigst einem Tauben, komm trinken, mein Sohn!« Und die Mutter reichte dem Neugeborenen ihre schönen Flaschen der Natur.”
So beginnt Thyl’s Geschichte nach dem Vorwort einer ziemlich unsympathischen Eule. Später wird Ulenspiegel allerdings andere Flaschen der Natur entdecken, die zum belgischen Nationalstolz gehören 🙂 .
Darüber mehr in der nächsten Folge am Samstag, den 15. Mai.