Wenn es einen poli­tis­chen Aktivis­ten gibt, den man nicht lock­er in irgen­deine weltan­schauliche Schublade steckt, kann man als per­fek­tes Beispiel Gus­tav Lan­dauer nen­nen. Er war Sozial­ist und Anar­chist, aber gle­ichzeit­ig ein pro­fun­der Mys­tik­er, der sich in den Gedanken eines Sco­tus Eri­u­ge­na, Meis­ter Eck­hartGio­van­ni Pico del­la Miran­dolaJakob Böhme,  Angelus Sile­sius oder Mar­tin Buber zuhause fühlte.

Eine aus­führliche Biogra­phie Lan­dauers find­et sich auf Wikipedia. Der fol­gende kleine Auszug aus einem Text in der Zeitschrift “Der Sozial­ist”, die er redigierte, macht seine Konzep­tion von Sozialismus/Anarchismus deut­lich:
« Organ für Anar­chis­mus-Sozial­is­mus », so ste­ht es an der Spitze unseres Blattes. Der Anar­chis­mus ist vor­angestellt als das Ziel, das erre­icht wer­den soll: die Herrschaft­slosigkeit, die Staat­slosigkeit, das freie Ausleben der einzel­nen Indi­viduen. Und dann wird angegeben, durch welch­es Mit­tel wir diese Frei­heit der Men­schen erre­ichen und sich­er­stellen wollen: durch den Sozial­is­mus, durch das sol­i­darische Zusam­men­hal­ten der Men­schen in allem, was ihnen gemein­sam ist, und durch die genossen­schaftliche Arbeit.

Man kön­nte ein­wen­den, wenn der Anar­chis­mus unser Ziel, der Sozial­is­mus das Mit­tel, es zu ermöglichen, sei, so sei das eine ganz verkehrte Welt; denn An-Archie sei etwas Neg­a­tives, die Abwe­sen­heit bes­timmter Herrschaft­sein­rich­tun­gen, während der Sozial­is­mus eine pos­i­tive Gesellschafts­form darstelle; gemeiniglich aber sei das Pos­i­tive das Ziel, auf das man los­ge­he, das Neg­a­tive, die Zertrüm­merung der ent­ge­gen­ste­hen­den Hin­dernisse, sei der Weg zur Erre­ichung jenes Pos­i­tiv­en.

Man vergißt bei diesem Ein­wand, daß Anar­chie nicht allein die leere Frei­heit bedeutet, son­dern daß unsere Vorstel­lung vom freien Leben und Wirken mit gar vielem und reichem pos­i­tiv­en Gehalt erfüllt ist. Uns soll in der Tat die möglichst zweck­mäßige, unter gle­ichen Bedin­gun­gen vor sich gehende Arbeit nur das Mit­tel sein, unsere reichen natür­lichen Kräfte ent­fal­ten und weit­er­en­twick­eln zu kön­nen, auf unsere Mit­men­schen, die Natur und die Kul­tur einzuwirken und den gesellschaftlichen Reich­tum nach Kräften zu genießen.

Diese weni­gen Worte schon sagen jedem, der nicht von den Partei­dog­men befan­gen gemacht wor­den ist, daß Anar­chis­mus und Sozial­is­mus nicht im ger­ing­sten Gegen­sätze sind, son­dern vielmehr sich gegen­seit­ig bedin­gen. Wahre genossen­schaftliche Arbeit, wahre Gemein­samkeit kann es nur in der Frei­heit geben; und Frei­heit der Per­so­n­en hin­wiederum ist nicht möglich, wenn nicht die Lebens­bedürfnisse durch brüder­lich­es Zusam­men­hal­ten hergestellt wer­den.

Lan­dauer betra­chtete die marx­is­tis­chen Ideen des Klassenkampfs und der Dik­tatur des Pro­le­tari­ats als einen Irrweg,
da diese nur ein neues Unter­drück­ungsver­hält­nis her­vor­bringe. Der Anar­chis­mus sollte seines Eracht­ens offen für alle Gesellschaftss­chicht­en sein und dazu beitra­gen, die Klas­sen­ge­gen­sätze zu über­winden, in dem er „[…] die Wiederge­burt des Men­schengeistes, um die Neuerzeu­gung des Men­schen­wil­lens und der pro­duk­tiv­en Idee großer Gemein­schaften“ anstrebe. In diesem Sinne set­zte sich Lan­dauer für Pro­duk­tions- und Kon­sumgenossen­schaften ein, die den Men­schen ein neues Bewusst­sein und Miteinan­der ermöglichen soll­ten. Nur so schien in seinen Augen eine freie sozial­is­tis­che Gesellschaft erre­ich­bar. (aus “Der Fre­itag” vom 5.5.2019)

Inter­es­sant seine drei Kernideen zum Anar­chis­mus:
Anar­chis­mus ist Abwe­sen­heit von Zwang (Herrschaft, Hier­ar­chie und Zwangsin­sti­tu­tio­nen).
Anar­chis­mus wird selb­stver­ständlich nicht als Ter­ror­is­mus missver­standen. Das heißt, es geht darum, den Anar­chis­mus gewalt­frei zu erre­ichen.
Anar­chis­mus kann nicht bloß ego­is­tis­ch­er Indi­vid­u­al­is­mus sein; genau davon gelte es sich zu befreien. Es geht um die Entwick­lung eines eigen­ständi­gen und selb­st­ständi­gen Indi­vidu­ums, das sich frei­willig in sol­i­darischen Gemein­schaften zusam­men­schließt. Voraus­set­zung für die Eigen­ständigkeit bzw. Selb­st­ständigkeit ist wiederum die „Abson­derung“, die zu ein­er „Ein­heit mit der Welt“ führt. Eine Wesensver­wand­lung des Men­schen war laut Lan­dauer notwendig oder wenig­stens eine Umkrem­pelung des ganzen Men­schen, so dass endlich die innere Überzeu­gung etwas Gelebtes wird, das dann auch in Erschei­n­ung tritt. Es ging also um einen „Anar­chis­mus der Tat“ und nicht bloß um einen „the­o­retis­chen Anar­chis­mus“. (Wikipedia)

Genau diesen Weg hin zur notwendi­gen Wesensver­wand­lung des Men­schen, ohne die keine anar­chis­tisch organ­isierte Gesellschaft denkbar ist, fand Lan­dauer in den Schriften der oben erwäh­n­ten Philosophen und Mys­tik­er vorgeze­ich­net.

Nach dem ersten Weltkrieg fand sein Leben ein abruptes Ende. Als erk­lärter Kriegs­geg­n­er engagierte er sich nach dem Zusam­men­bruch des Deutschen Reich­es in München zusam­men mit Kurt Eis­ner in der kur­zlebi­gen Rätere­pub­lik. Nach der Ermor­dung Eis­ners und der Über­nahme durch die Kom­mu­nis­ten zog er sich zurück. Er wurde ver­haftet, von einem recht­sradikalen Freiko­rps gefoltert und erschossen.

„Die Anar­chie ist der Aus­druck für die Befreiung des Men­schen vom Staats­götzen, vom Kirchengötzen, vom Kap­i­tal­götzen; Sozial­is­mus ist der Aus­druck für die wahre echte Verbindung zwis­chen den Men­schen, die echt ist, weil sie aus dem indi­vidu­ellen Geist erwächst, weil sie als das ewig Gle­iche und Eine im Geist des einzel­nen, als lebendi­ge Idee blüht, weil sie zwis­chen den Men­schen als freier Bund erste­ht.“

 Der Sozial­ist, 1911

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