Die jüdische Jungendbewegung “Haschomer Hatzair” (dt. “der junge Wächter”) war kurz vor Beginn des ersten Weltkriegs in Galizien gegründet worden. Manès Sperber entdeckte die Bewegung in Wien als 12-Jähriger schon bald nach seiner Ankunft in der Hauptstadt und schloss sich ihr nach einigem Zögern begeistert an:
Der Schomer hatte zuerst den Charakter einer jüdischen Pfadfinderorganisation. Man marschierte im Wiener Wald, man sang hebräische Lieder, lernte das Morsealphabet und disktutierte über jüdische Fragen und vor allem über Palästina. Bald verschoben sich aber die Akzente: Hebräisch sprechen zu lernen, die Geschichte der zionistischen Bewegung zu studieren ** und Palästinagraphie zu betreiben, begann sehr viel Zeit in Anspruch zu nehmen. Anlässlich der Sonntagsausflüge wurde das militärische Exerzieren mit hebräischen Befehlen wichtig. Es sollte den Willen der Jugendlichen zeigen, dem Hass und mehr noch der Verachtung der Judenfeinde etwas entgegenzusetzen. Die Gruppen des Schomer wanderten jetzt mit einem deutlich erkennbaren, an der Spitze der Gruppe vorangetragenen Davidstern.
(Isler, Manès Sperber, p. 29)
** Theodor Herzl hatte 1896 “Der Judenstaat” veröffentlicht, gefolgt vom ersten Zionistischen Weltkongress in Basel 1897.
Für den kleinen Manès wurde die Teilnahme am Schomer in mehrfacher Hinsicht prägend:
● Sie erlaubte ihm das schrittweise Lösen aus der Familie mit ihrer traditionellen chassidischen Prägung und die Erfahrung eines neuen jüdischen nicht-religiösen Selbstbewusstseins:
Es war ein für allemal abgemacht, daß wir weder Schimpf noch Herausforderung unbeantwortet, unbestraft lassen würden. Auch wenn wir schwächer und von geringerer Zahl waren als jene, die uns angriffen, hatten wir standzuhalten. Den Kopf hoch tragen, jedem ins Gesicht sehen, Auseinandersetzung und Kampf nicht meiden, nie, nie mehr davonlaufen! Das lehrte uns der Schomer, und zugleich die von der Pfadfinderbewegung gepriesenen Tugenden: Aufrichtigkeit, nicht lügen, immer hilfreich sein, jeden Tag zumindest eine gute Tat vollbringen: »Allzeit bereit!«
● Sie machte ihn mit dem zionistischen Gedankengut vertraut:
… wir träumten mit offenen Augen von dem verjüngten jüdischen Volk, das auf einer von ihm urbar gemachten, entsumpften, entsteinten Erde in Palästina eine neue Gesellschaft schaffen würde. Wir konnten nicht ermessen, wieviel von alledem Wunsch war, Ahnung oder ein realisierbarer, großer Plan. Mitten im ungeheuerlichen Kriegselend, das jeder von uns am eigenen Leib spürte, wurden wir von Hoffnungen erfaßt, die unsern Alltag prospektiv in die Vergangenheit verstießen. … Damals wurde der Schomer für viele meinesgleichen eine nie versiegende Quelle von forderndem, förderndem, tätigem Glück; er sollte es mehrere Jahre bleiben.
● Im Hinblick auf sein späteres Leben am wichtigsten war aber die Konfrontation mit den revolutionären sozialistischen Ideen und Bewegungen:
… noch bevor das Jahr 1918 endete, hatte sich der Schomer aus einer jüdischen Scout-Organisation in eine freie, in wesentlichen Hinsichten wahrhaft revolutionäre Jugendbewegung verwandelt. Den ersten Anstoß gaben zweifellos die Ältesten unter uns, junge Leute, die von der Front auf Urlaub kamen und erzählten, was sie dort erleben mußten. Der Einfluß der russischen Revolution förderte das Interesse für die Sozialrevolutionäre, die Nachfahren der Narodniki, und für die anarcho-kommunistische Lehre Kropotkins, des revolutionären Fürsten, viel mehr als für den Marxismus. Kropotkins Erinnerungen und seine »Gegenseitige Hilfe« haben uns zutiefst beeindruckt und gewiß wesentlich dazu beigetragen, den Wiener Schomer für jene Ideen und Ziele zu gewinnen, die später im Kibbuz verwirklicht werden sollten.
(aus Sperbers Autobiographie “All das Vergangene”)
Am stärksten fasziniert war Sperber aber von Gustav Landauer:
Die Prophetengestalt Landauers hatte eine charismatische Ausstrahlung. Seine Ermordung am Ende der Münchner Räterepublik erschütterte Sperber, und sein “Aufruf zum Sozialismus” sprach ihn intellektuell und emotional stark an. Auf die Frage nach den wesentlichen Einflüssen der Zeit des Schomer antwortet Sperber Jahrzehnte später in einem Gespräch mit Siegfried Lenz: “... sein Buch, der “Aufruf zum Sozialismus”, hatte eine ungeheure Bedeutung für mich und meinesgleichen.”
(Isler, Manès Sperber, p. 30)
Grund genug, die nächste Folge der eindrücklichen Gestalt Landauers zu widmen, und dies wie immer am kommenden Samstag, den 15. März.
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