Als im November 1918 das mörderische Schlachten endlich zu Ende ging und die alte monarchische Ordnung zusammenbrach, witterten viele Arbeiterinnen und Arbeiter in Wien Morgenluft. Die Sozialisten, die Kommunisten, die Anarchisten — sie alle hofften, ihren politischen Ideen endlich zum Durchbruch verhelfen zu können. Es kam zu Aufständen, die aber alle niedergeschlagen wurden.
Manès Sperber war dreizehn Jahre alt, als er in einer “Tee- und Wärmestube”, wo man gratis Zeitungen lesen konnte, mit einem Kriegsinvaliden Bekanntschaft machte.
Dort … begegnete ich einem Mann, der so häufig den Namen wechselte, als ob er sich unauffindbar machen wollte. Da aber jeder wußte, daß er es war, den der jeweils neue Name bezeichnete, war das Ganze ein Spiel, das ganz gewiß vor allem ihn selbst, aber auch die anderen amüsierte.
Ich war gerade im Begriff, eine Zeitung, die ich auf einem Stuhl erspäht hatte, an mich zu nehmen, als mein Arm von hinten gepackt wurde. Ich drehte mich um und erblickte einen kränklichen Mann mit dem abgezehrten Gesicht eines Verhungernden. Er trug eine Uniform ohne Rangabzeichen und — obwohl es in der Halle sehr warm war — eine graue Pelzmütze auf dem Kopf; der rechte Ärmel hing ihm leer herab, also war er ein Kriegsinvalide.
»Ich bin der Oberleutnant Grimme. Vielleicht bin ich gar kein Oberleutnant. Und es geht außerdem niemanden an, ob ich Grimme heiße oder ganz anders. Verstanden? Gut. Und wie heißt du? Wer bist du?, was kommst du jeden Abend hierher? Hast keine Familie oder bist du ein Vagabund, ein Strabanzer?« (…)
Grimme-Krakowiak gab mir im Verlauf der ersten Gespräche zu verstehen, daß er aktiv die Revolution vorbereitete — nicht er allein, natürlich, aber es waren ihrer nicht viele, die so genau wie er wußten: erstens, was unbedingt getan werden mußte, und zweitens, was unbedingt verhindert werden mußte. Er berief sich auf Leute, deren Namen mir nichts sagten, die aber in den dünnen Broschüren vorkamen, die er mir borgte. Ich durfte sie nicht behalten, sondern an Ort und Stelle »intus nehmen«, wie er sich gerne ausdrückte (…)
Grimme war ein Anhänger anarchistischer Ideen, des “herrschaftslosen Sozialismus”. Das führte zu einem Konflikt, denn der kleine Manès hatte in den Zeitungen ein paar Zitate von Marx aufgeschnappt:
Ich wußte nicht genau, was ein Marxist ist, und glaubte auch gar nicht, einer zu sein. Ich war gegen den Krieg, für die Gleichberechtigung aller Menschen und aller Völker und besonders der Juden, denen sie in so vielen Ländern versagt wurde, für eine jüdische Heimstätte in Palästina, wie sie wenige Wochen vorher Lord Balfour den Juden zugesichert hatte. Da Kerenski den Krieg auch nach dem Sturz des Zaren fortführte, war er ein Feind; da Lenin und Trotzki sofort Frieden schließen wollten, bedeutete der Sieg ihrer Revolution etwas Gutes für alle Völker, die dem Zaren untertan gewesen waren, und für alle Armen, besonders für die Bauern — das glaubte ich wie so viele andere.
Grimme versuchte Sperber mit eine Broschüre zu überzeugen, deren Inhalt darauf hinaus lief,
daß Trotzki, Lenin und alle ihresgleichen im Falle ihres Sieges niemanden befreien würden, nicht das Proletariat, nicht die Bauernschaft und nicht die von den Zaren unterdrückten Völker, sondern daß sie im Namen der Revolution eine Diktatur, eine neue Despotie errichten würden. Nun, das klang in meinen Ohren ungeheuerlich, das war, sagte ich Grimme, unglaublich, eine bösartige Verleumdung. Ich erzürnte ihn natürlich, doch beherrschte er sich diesmal und hielt mir eine lange Rede. Es gelang ihm nicht, mich zu überzeugen, ich hörte ihm kaum zu und hatte nur ein Verlangen: ihn schnell zu verlassen. Er schien es nicht zu bemerken und redete immer weiter. Schließlich war es spät geworden und überdies, sagte ich ihm, kam es ja wirklich nicht darauf an, gerade mich zu überzeugen.
»Du irrst dich. Ich glaube an die einzelnen. Denn jeder ist ein einziger«, sagte Grimme zurechtweisend.
»Das verstehe ich nicht« unterbrach ich ihn und stand auf. »Die Revolution, die im März und die im November haben die Massen gemacht.«
»Also geh zu den Massen!« schrie Grimme »und daß ich dich hier nicht wiedersehe, geh zum Teufel!«
Ich verließ ihn und sein groteskes Gefolge, traurig darüber, daß es zwischen uns so enden mußte, und dennoch zufrieden, daß es nun aus war.
Doch es war nicht aus, denn etwas später liess Grimme, der jetzt Langer hiess, den kleinen Manès in seine “Stabskanzlei” holen, wo er ihm eröffnete:
»In einigen Stunden, sagen wir in ein, zwei Tagen, beginnt die Revolution, die wirkliche — und die machen wir. Ich werde dir das später erklären. Und jetzt paß auf, du hast eine schwierige Aufgabe zu erfüllen. Jetzt, sofort.«
Was es mit dieser “schwierigen Aufgabe” auf sich hatte, wie die Geschichte ausging, und was sie in dem dreizehnjährigen Jungen auslöste, kann hier in einem längeren, spannenden Auszug als PDF nachgelesen werden.
Diese kleine Episode aus dem revolutionären Wien macht die frühe Politisierung Sperbers deutlich. Dazu trug aber auch seine Mitgliedschaft im “Haschomer Hatzaïr”, der sozialistischen jüdischen Jugendorganisation bei.
(alle Auszüge aus der Autographie “All das Vergangene. Die Wasserträger Gottes”)
Fortsetzung am kommenden Samstag, den 8. März
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