Der Wegzug — oder bess­er, die Flucht — der Fam­i­lie Sper­ber von Zablo­tow nach Wien war ein Weg in die Armut. Nicht nur, weil die stolze Haupt­stadt des Hab­s­burg­er Reichs und die Bevölkerung immer mehr an den Kriegs­fol­gen litt, son­dern auch, weil Vater Sper­ber keine Arbeit fand. Die Banken, wo er ein Auskom­men gefun­den hätte, arbeit­eten auch sam­stags, und das bedeutete eine Entheili­gung des Sch­ab­bat: für einen tiefgläu­bi­gen Chas­si­den undenkbar.

Dazu kam, dass die aus Gal­izien stam­menden Juden dem mehr oder weniger offe­nen Anti­semitismus in Wien beson­ders aus­ge­set­zt waren, da sie als uner­wün­schte Konkur­renten im Kampf um Arbeit­splätze emp­fun­den wur­den. Ablehnung erfuhren sie auch von den bess­er gestell­ten Juden, die sich an der west­lichen bürg­er­lich-aufgek­lärten Kul­tur ori­en­tierten.
Diese definierten ihre Iden­tität vor allem über Bil­dung und über die Teil­habe an der mod­er­nen Zivil­i­sa­tion, und sie fan­den in der Unbil­dung und in der zivil­isatorischen Rück­ständigkeit der Ostju­den die polare Antithese zu ihrer eige­nen Iden­tität. Deshalb unter­stützten sie anti­semi­tis­che Stereo­typen. Die ostjüdis­che Bevölkerung Wiens  sah ihrer­seits in den West­ju­den ten­den­ziell die von Gott Abge­fal­l­enen, die sich dem Zugang zur wes­teu­ropäis­chen Gesellschaft, Wirtschaft, Wis­senschaft und Kul­tur durch die Auf­gabe ihrer jüdis­chen Iden­tität, ihrer Kul­tur, Sprache und Reli­gion erkauft und die Unmit­tel­barkeit des Glaubens einem aufk­lärerischen Intellek­tu­al­is­mus geopfert hat­ten. (Isler, Manès Sper­ber, p. 25)

In diesem Span­nungs­feld musste sich Manès Sper­ber seinen eige­nen Weg suchen. Seine Eltern ermöglicht­en ihm den Besuch des Gym­na­si­ums, das ihn allerd­ings nur mäs­sig inter­essierte. Weit mehr faszinierte ihn dank ein­er Lei­h­bib­lio­thek der Zugang zum kul­turellen Erbe Europas und Rus­s­lands: die deutschen Klas­sik­er, allen voran Schiller, Niet­zsche, Dos­to­jew­s­ki …

Schock­ierend fand der hellwache Jugendliche die ober­fläch­liche Kriegs­begeis­terung in der Bevölkerung, die mit dem Weit­er­schre­it­en des Kriegs und den immer spür­bar­er wer­den­den Fol­gen im All­t­ag aber schrit­tweise ein­er all­ge­meinen Kriegsmüdigkeit wich. Sper­ber begann die sozial­is­tis­che “Arbeit­er-Zeitung” zu lesen, denn sie war nicht nur bil­lig, son­dern schrieb oft gegen den Krieg und hat­te nicht sel­ten von der Zen­sur erzwun­gene , weiss gelassene Stellen, die ihre Glaub­würdigkeit in seinen Augen erhöht­en. (…) Schliesslich war es dann doch eine über­wiegende Mehrheit der Bevölkerung, die das Ende des Krieges forderte, und es scheint deshalb auch nicht weit­er erstaunlich, wenn ein Zwölfjähriger von dieser Stim­mung erfasst wurde und gegen Ende des Krieges durch den Besuch von paz­i­fistis­chen Ver­samm­lun­gen auch in Kon­takt mit politschen Kreisen kam — in ein­er poli­tis­chen Sit­u­a­tion, die sich fast täglich radikalisierte und von den rev­o­lu­tionären Ereignis­sen in Rus­s­land über­strahlt wurde. (Isler, Manès Sper­ber, p. 27)

Sper­ber schrieb in sein­er Auto­bi­ogra­phie über jene Zeit:
Unsere radikale Vere­len­dung — doch nicht nur sie — bewirk­te, daß ich alles um mich herum, beson­ders die Men­schen auf der Straße anders zu sehen begann als vorher: jeden in sein­er Beson­der­heit, in sein­er Gan­gart; eines jeden Gesicht und Klei­dung. Dabei ist es geblieben, denn meine Aufmerk­samkeit für alle, die meinen Weg kreuzen, ist noch immer nicht abges­tumpft. .… Sie hat in mir etwas gefördert, was man als »nack­te Men­schlichkeit« beze­ich­nen kön­nte. Das bedeutet wed­er Men­schen­liebe noch das Gegen­teil, son­dern die Unfähigkeit zur Gle­ichgültigkeit gegenüber allem, was die Men­schen bet­rifft, also in erster Lin­ie gegenüber ihrem Dasein. Im Städ­tel, in jedem kleinen Dorf ist einem kaum jemand, dem man begeg­net, wirk­lich unbekan­nt, es sei denn, er wäre wirk­lich ein Fremder. In der Großs­tadt ist es umgekehrt: jene, die einem nicht fremd sind, bilden die Aus­nahme. Ich ging nun durch die Straßen der Großs­tadt, nicht fähig und nicht wil­lens, mich mit dieser Fremd­heit abzufind­en. Fand ich mich damit ab, daß ich sie nicht inter­essierte, nichts anging, so gin­gen sie, sie alle mich den­noch an.

Das ist nicht so eige­nar­tig, wie es klin­gen mag. Was ich da eher angedeutet als beschrieben habe, sind Motive, die wohl nicht nur in meinem Falle bewirken mußten, daß ich Sozial­ist wurde. Warum? Weil ich die Men­schen ansah, als ob sie und ihr Schick­sal, ihre Armut und ihre Ver­härmtheit mich sel­ber angin­gen. Die Klassen- und Standesun­ter­schiede waren damals him­melschreiend, mit jedem Kriegstage wur­den sie auf­dringlich­er und empören­der.

1918 erfol­gte schliesslich die Nieder­lage der Mit­telmächte,  ver­bun­den mit dem Zusam­men­bruch der jahrhun­derteal­ten hab­s­bur­gis­chen Donau­monar­chie. Das grosse Chaos begann, — und Manès Sper­ber als klein­er Rev­o­lu­tionär mit­ten drin …

Dazu mehr in der kom­menden Folge am Sam­stag, den 1. März

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