Als einen jähen Bruch in seiner Kindheit erlebte Manès Sperber den Ausbruch des ersten Weltkriegs. Zablotow geriet zwischen die Fronten: auf der einen Seite die Mittelmacht Österreich-Ungarn, auf der anderen Seite Russland. Das Schtetl geriet immer wieder in das Kreuzfeuer der gegnerischen Artillerie. Ein schockierendes Erlebnis schildert Sperber in seiner Autobiographie. Sein Lehrer wollte während des Beschusses Lebensmittel und Arzneien für einen Kranken holen, und der kleine Manès folgte ihm unbemerkt. Sie nahmen den Weg über den Friedhof, um hinter den Grabsteinen in Deckung gehen zu können. Doch da geschah es:
Wir hörten wilde Schreie, die vom Fluß hochstiegen, sie kamen schnell näher, dann verstummten sie plötzlich, aber der Donner der Kanonen hörte nicht auf, es schlug jedoch jetzt seltener im Friedhof ein. Ich zitterte am ganzen Leibe. Wir mußten aufstehen — es nutzte nichts und, hinter Grabsteinen Deckung suchend, schnellstens da hinauskommen. Wir gingen nicht, wir liefen, wir sprangen von einem Grab zum andern; wir waren nahe dem Pförtchen der alten Mauer, da schlug es mit ungeheurer Wucht vor uns ein, zwischen den frischen Gräbern. Ich schloß krampfhaft die Augen, um nicht zu sehen, was da hochgeschleudert aus der Erde kam. Der Schrecken lähmte mich, eiserne Reifen schlossen sich um meine Brust. »Schon, schon, es ist schon vorbei!« hörte ich den Lehrer flüstern. Ich wollte etwas sagen, doch aus meinem Mund kam nur ein jämmerliches Wimmern. Nach einer kurzen Weile liefen wir zur Mauer hin, wir fielen in einen Trichter, der wahrscheinlich schon in der Nacht von einer Granate aufgerissen worden war, denn eine dünne Schneeschicht bedeckte ihn. Da blieben wir, halb sitzend, halb liegend.
Meine Beklemmung ließ allmählich nach, auch die Beine zitterten nicht mehr. Ich mußte die Hände aus der Manteltasche holen, die Handschuhe abstreifen und mir das tränenfeuchte Gesicht mit Schnee abreiben. Es stünde irgendwo geschrieben, sagte der Lehrer, daß jedes Lebewesen Angst hat. Aber worauf es ankommt, das ist: Mut zur eigenen Angst zu fassen, den Mörder zu fürchten, doch nicht dessen Schatten. Und auch nicht seinen eigenen Schatten. Ich nickte zu allem übereifrig, obschon ich nicht sicher war, daß ich es recht verstand. Ich wünschte, daß er nur sprechen sollte, immerfort; seine Worte schützten uns zwar nicht gegen die Kanonen, aber gegen die Angst, gegen diesen furchtbaren, lähmenden Schrecken, dessen Wiederkehr ich in jener Stunde mehr fürchtete als das Schlimmste, das mir je widerfahren war.
Als besonders hart und drückend erlebten die Einwohner Zablotows die regelmässig wiederkehrende Okkupation durch die Russen.
Die Russen peinigten die Bevölkerung auf verschiedenste Weise, und sie requirierten natürlich Nahrungsmittel, wodurch sie die bereits bestehende Armut verschärften. In der Folge der mangelhaften Ernährung und der Kälte kam es dann aber auch zu Epidemien, was die Russen dazu veranlasste, eine Quarantäne über Zablotow zu verhängen sowie Massnahmen zu treffen, die die Verbreitung der Epidemien eindämmen sollten. Da diese Massnahmen hauptsächlich darin bestanden, die Bethäuser und Schulen zu schliessen, hielten sich die traditionell orientierten Juden nicht daran. Nicht mehr zu beten und die Kinder der “Finsternis der Unwissenheit preiszugeben”, war schlimmer, als eine sowieso nicht mit Sicherheit greifende Massnahme nicht einzuhalten, die nur die Idee eines Knechtes des Zaren sein konnte. Die Massnahmen wurden trotz russischer Wachtposten umgangen, und die Juden trafen sich in privaten Häusern zum Gottesdienst, zum Beten und Lernen. Natürlich starben die Menschen massenweise, und Manès Sperber hörte als Zehnjähriger, wie die Kranken mit dem Tode rangen, und er sah täglich die Toten mit ihren entstellten Gesichtern. (Isler, Manès Sperber, p. 20)
Im Frühsommer 1916 wurde die Situation unerträglich, und so beschlossen die Eltern schweren Herzens, definitiv nach Wien umzusiedeln. Der kleine Junge seinerseits freute sich, mit Wien die grosse, weite Welt kennenzulernen. Das Zentrum des Habsburger Reichs sollte für ihn ähnlich prägend werden wie Zablotow.
Dazu mehr in der nächsten Folge am kommenden Samstag, de 22. Februar.
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