In ein­er der per­sön­lich­sten und ein­drück­lich­sten Pas­sagen in Manès Sper­bers Buch “Chur­ban oder die unfass­bare Gewis­sheit” spricht er über sein “Jude-Sein” jen­seits von jeglich­er religiös­er Kon­no­ta­tion: Manès Sper­ber, ungläu­big.
… Nun, ich bin solch ein ungläu­biger Jude. Nicht ein einziger der zahllosen Riten, die den All­t­ag und den Fest­tag der Gläu­bi­gen beherrschen, hat für mich noch Gel­tung. Desungeachtet habe ich nie die ger­ing­ste Nei­gung emp­fun­den, mein Jude­sein zu ver­leug­nen oder mich ihm zu ent­frem­den. Nicht religiös und nicht ein Israeli — was bin ich denn für ein Jude? Diese Frage läßt nur eine per­sön­liche Antwort zu, gilt also jew­eils nur für den einzel­nen, in diesem Falle für mich. Sie mag für andere Juden in mein­er Lage gar nicht gel­ten.

Ich bin ein Jude, weil ich in mein­er Kind­heit von ein­er alles umfassenden, alles durch­drin­gen­den jüdis­chen Erziehung geformt wor­den bin. Man lehrte mich, alles im Hin­blick auf Gottes Gebote zu erken­nen, zu ver­ste­hen und zu deuten; noch vor dem Schu­lal­ter las ich die Bibel im Orig­i­nal, daneben auch deutsch, etwa Grimms Märchen, und die Zeitung, die aus Wien kam. Man belehrte mich aufs ein­dringlich­ste über die von der bib­lis­chen Ethik ange­ord­neten Leben­sregeln, deren gebi­eter­ischste für mich unabän­der­lich geblieben ist: den Ein­klang von Glauben und Tun, von The­o­rie und Prax­is zu erlan­gen und in seinem Sinne zu leben. Ich wage nicht zu behaupten, daß ich dieses Gebot stets befol­gt habe, aber ich habe nie aufge­hört, an jenen Leben­sregeln zu ermessen, ob ich jew­eils meinem Leben einen Sinn gab oder in Gefahr geri­et, es sin­nwidrig zu vergeu­den.

So han­deln, wie es gut wäre, daß alle han­deln soll­ten; nie vergessen, daß man nicht nur für das eigene Tun ver­ant­wortlich ist, son­dern für alles Übel, das man ver­hin­dern oder zumin­d­est ver­min­dern kön­nte; immer gemäß dem Rat han­deln, den uns Rab­bi Hil­lel hin­ter­lassen hat: »Was du nicht willst, daß man dir antue, das tue auch keinem anderen an.« Und schließlich sich zu dem beken­nen, was man als Wahrheit erkan­nt zu haben glaubt — und bliebe man mit ihr ganz allein. Doch sollte man, wenn möglich, nie allein bleiben und stets sol­i­darisch sein.

Als ich wenige Jahre später auf Dos­to­jew­skis reumütig her­aus­fordern­den Satz stieß: »Wir alle sind an allem schuld!«, dünk­te er mich im ersten Augen­blick so über­trieben, als träte in ihm ein verkehrter Größen­wahn zutage. Dann aber erkan­nte und fühlte ich zugle­ich, daß der Dichter recht hat­te. Am Ende war es mir, als wieder­holte er eine Botschaft, die ich bere­its in mein­er Kind­heit emp­fan­gen hat­te. Denn das ist mein Judais­mus seit jeher: Sol­i­dar­ität mit den Juden, ein­deutige, unanzweifel­bare Iden­ti­fika­tion mit ihnen. Kon­nte es denn auch nach allem, was ihnen in diesem Jahrhun­dert ange­tan wor­den ist, anders sein?

Und auch das ist mein Judais­mus: Sol­i­dar­ität mit allen, denen Unrecht getan wird. Das ist seit jeher mein Sozial­is­mus gewe­sen; er ist es geblieben wie die häu­fig genug erfol­glose und den­noch ungeduldige Bemühung um eine Welt, in der The­o­rie und Prax­is sich ver­söh­nen und für immer vere­int sein wür­den.

Ich füh­le mich keineswegs verpflichtet zu allem, was die Eige­nen tun, ja zu sagen, son­dern eher im Gegen­teil dazu berechtigt, schär­fer als son­st alles zu kri­tisieren, was bei ihnen ungerecht, unwürdig, zu anspruchsvoll oder oppor­tunis­tisch und daher unecht sein kann. Solche Strenge habe ich selb­st erfahren und sie mir ohne Zögern zu eigen gemacht. Jedoch hat es sei­ther Jahre gegeben, da Jude sein unen­trinnbares Lei­den bedeutete und ein unaufhör­lich­es Mitlei­den; es blieb keine Strenge, son­dern nur ein winziger Rest von Zuver­sicht zurück und der Wille zum Wider­stand, doch zumeist keine Möglichkeit, ihn zu leis­ten.

Fort­set­zung am kom­menden Sam­stag, den 20. Dezem­ber

An anderen Serien inter­essiert?
Wil­helm Tell / Ignaz Trox­ler / Hein­er Koech­lin / Simone Weil / Gus­tav Meyrink / Nar­rengeschicht­en / Bede Grif­fiths / Graf Cagliostro /Sali­na Rau­ri­ca / Die Welt­woche und Don­ald Trump / Die Welt­woche und der Kli­mawan­del / Die Welt­woche und der liebe Gott /Lebendi­ge Birs / Aus mein­er Fotoküche / Die Schweiz in Europa /Die Reich­sidee /Voge­sen Aus mein­er Bücherk­iste / Ralph Wal­do Emer­son / Fritz Brup­bach­er  / A Basic Call to Con­scious­ness Leon­hard Ragaz / Chris­ten­tum und Gno­sis / Hel­ve­tia — quo vadis? / Aldous Hux­ley / Dle WW und die Katholis­che Kirche / Trump Däm­merung / Manès Sper­ber /Reinkar­na­tion

"Stöckli" statt "Städtli"
Advänt 2025 Tür.li 13

Deine Meinung