In der Folge kommt Manès Sperber in seinem Buch “Churban” auf den Talmud zu sprechen, neben dem Tanach der zweite wichtige Pfeiler im Judentum. Eine gute Einführung in seine Bedeutung und sein breites Inhaltsspektrum findet sich auf dieser Website.
Dem Werk standen die Christen in der Regel ablehnend gegenüber. Oft wurde er öffentlich auf Stadtplätzen verbrannt, so 1240 in Paris, 1553 in Rom. 1475 nannte der katholische Schriftsteller Peter Schwartz den Talmud “das verfluchte Buch — der Talmud, den die deutschen Fürsten nicht länger dulden, sondern gewaltsam verbrennen sollten”. Am bekanntesten ist wohl das Urteil von Martin Luther, der den Talmud als “Götzendienst, Lügen, Flüche und Abfall vom Glauben” verketzerte (Hier die Quelle mit weiteren Beispielen)
Auch im Nationalsozialismus wurde das Werk propagandistisch negativ ausgeschlachtet, wie die Bilder zeigen:

Hier nun der Kommentar Sperbers:
Der Talmud, ein monumentales Werk ohnegleichen, ist das meist überschätzte und unterschätzte, das meist verleumdete und das seit Jahrtausenden mit unübertrefflichem Eifer studierte, kondensierte Protokoll zahlloser Diskussionen über juridische Probleme, über biblische und nachbiblische Gebote und Verbote, über Sitten und Gebräuche und deren Begründung. Der Talmud ist überdies eine riesige Anthologie von Gleichnissen, Erzählungen und Anekdoten, von historischen und biographischen Hinweisen, von religiösen, philosophischen und moralischen Erörterungen über den Schöpfer der Welt und über seine Geschöpfe, über deren Geschlecht und Fortpflanzung, über Tugend und über Tod und Ewigkeit und schließlich über Tausende anderer Erfahrungen, Fragen und Lösungen — kurz, fast über alles, was erwähnenswert ist oder es einstmals oder niemals gewesen ist.
Die Judenfeinde haben aus diesen ungezählten Millionen von Worten einige — mit Vorliebe schlecht übertragene — Sätze herausgeklaubt, wütende Äußerungen über Feinde, besonders über die grausamen Maßnahmen der römischen Besatzung gegen die jüdischen Insurgenten, gegen deren Freunde und Familien und gegen die friedliche Bevölkerung. Da in diesem Zusammenhang das Wort Goj oder in der Mehrzahl Gojim so tendenziös übersetzt wird, daß es als verfemende Bezeichnung für alle Nichtjuden erscheinen muß, sei hier festgestellt, daß dieses Wort in der Bibel wie auch in späteren Schriften »Volk« bedeutet, so auch wenn man das jüdische meint. (In meinem ostgalizischen Geburtsstädtchen bedeutete übrigens Goj Ruthene oder, allgemeiner, Bauer; alle anderen Nachbarn aber wurden als Juden, Polen oder Deutsche bezeichnet.)
Der Talmud ist in vielen Hinsichten, auch als erste Enzyklopädie des damaligen Wissens, einzigartig; ebenso einzigartig ist sein Schicksal, denn kein anderes Werk ist mit einem solch unermeßlichem Aufwand von Intelligenz, mit solch grenzenloser, verehrungsvoller Aufmerksamkeit gelehrt und gelesen worden. Aber noch wichtiger als was der Talmud lehrt, ist das, was man seit 1500 Jahren in ihn »hineingedacht« hat. So verwandelte sich dieses Studium in einen Prozeß fortgesetzter Bereicherung, die zur Kunst der Exegese und der Deutung wurde, die jene der christlichen Scholastik weit übertroffen hat.
Die Deutungskunst kam erst nach der Emanzipation zur vollen Geltung, als keinerlei Diskriminierung den Juden die Beschäftigung mit den weltlichen Wissenschaften erschwerte. Der ungewöhnliche Erfolg so vieler jüdischer Forscher erklärt sich somit nicht durch eine sogenannte höhere Intelligenzquote, sondern ist Frucht und Folge einer optimistisch-skeptischen Denktradition, die zugleich mit den Ursachen allen Seins und allen Tuns auch deren mehr oder minder unterschwelligen Sinn zu entdecken drängt.
Fortsetzung am kommenden Samstag, den 22. November
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