Manès Sper­ber gibt in seinem Werk “Chur­ban oder die unfass­bare Gewis­sheit” zu Beginn einen kurzen Abriss über das Schick­sal der jüdis­chen Gemein­schaften im christlichen Europa des Mit­te­lal­ters und der frühen Neuzeit. Hier die Fort­set­zung sein­er Über­sicht in der let­zten Folge:
.… Ohne solche hehren Vor­wände (Hostien­schän­dung, Rit­ual­morde) eigneten sich die Rit­ter die Erde an und ver­wan­del­ten die Bauern in land­lose Knechte. Die alle paar Jahre wiederkehren­den Mißern­ten und Hunger­snöte bere­icherten die Reichen, ver­mehrten die Ver­brechen der Diebe und Räu­ber, aber die Armen, die Alten und Kinder verka­men noch schneller als son­st. Die Kreuz­fahrer macht­en halt, wo es was zu plün­dern gab; Byzanz, das wed­er jüdisch noch musel­man­isch noch hei­d­nisch, son­dern christlich war, wurde von den eroberungssüchti­gen Pil­gern des Vierten Kreuz­zuges so bar­barisch ver­wüstet und aus­ger­aubt, daß noch spätere Gen­er­a­tio­nen der Chris­ten­heit in Erin­nerung an diese Mis­se­tat­en erschaud­erten.

Die Juden waren auf dem laufend­en über alles, was in der Welt geschah, nicht nur dank den Kau­fleuten, die seit Jahrhun­derten die Län­der des West­ens und des Nahen Ostens uner­müdlich bereis­ten, son­dern auch dank den Send­boten, die den jüdis­chen Gemein­den Spaniens, Frankre­ichs, Deutsch­lands und Polens sowie des Ostens briefliche Anfra­gen über­mit­tel­ten, die religiöse, geset­zliche und rit­uelle Fra­gen betrafen. Mit­ten in den einan­der pausen­los fol­gen­den Katas­tro­phen wollte man in Köln und Worms, in Paris und in Troyes, in Cor­do­ba und in Madrid wie in Rom und Venedig, in Kairo, in Damaskus und Bag­dad — über­all wollte man schnell­stens die Stel­lung­nahme der her­vor­ra­gend­sten Gelehrten der Zeit zu Prob­le­men erfahren, die den Nichtju­den abstrakt und uner­he­blich erschienen wären. Über alle Gren­zen hin­weg trug die eige­nar­tige Kor­re­spon­denz bedeu­tend zur Erhal­tung des Ein­heits­be­wußt­seins der Dias­po­ra-Juden bei.

Jene, die die Intel­li­genz der Juden, zumeist in bös­er Absicht, über­schätzen, und jene, die deren Geistigkeit unter­schätzen, verken­nen, daß schon zu Beginn des zweit­en Jahrtausends die europäis­che Juden­heit als einziges Volk so gut wie über­haupt keine Anal­pha­beten aufwies, daß sie trotz uner­bit­tlichem Zwang zum materiellen Gewinn die Recht­fer­ti­gung ihres Daseins allein im geisti­gen Leben suchte.

Die ungewöhn­liche Bedeu­tung, die jene Juden­heit dem Geisti­gen zuge­s­tand, läßt sich nicht zulet­zt daran ermessen, daß sie ihr Ein­heits­be­wußt­sein bewahren kon­nte, obschon zahllose Fak­toren die Unter­schiede zwis­chen den ver­schiede­nen Teilen des ver­sprengten Volkes fort­ge­set­zt ver­stärk­te.

Selb­st geo­graphisch so nahe Grup­pen wie die der iberischen und die der nord­franzö­sis­chen Juden waren in vie­len Hin­sicht­en voneinan­der genau so ver­schieden wie die Spanier von den Fran­zosen. Jehu­da Halevy, der kastilis­che Poet und Reli­gion­sphilosoph, Raschi aus Troyes, der enzyk­lopädis­che Gelehrte, Exeget und Kom­men­ta­tor, der Philosoph Mai­monides aus Cor­do­ba und Kairo, der zusam­men mit ara­bis­chen Philosophen den Okzi­dent Aris­tote­les neu ent­deck­te — diese drei beispiel­haften Repräsen­tan­ten des Juden­tums zur Zeit der ersten Kreuz­züge hat­ten ver­schiedene Umgangssprachen: Spanisch, Franzö­sisch, Ara­bisch; sie lebten unter völ­lig ver­schiede­nen Bedin­gun­gen, und ihr äußer­er Lebensstil war dem ihrer Land­sleute angepaßt. Das Schick­sal wollte es, daß die Nach­fahren des Spaniers sich nach Hol­land ret­ten kon­nten, die des andern in Polen und die des drit­ten schließlich in der Türkei oder auf den griechis­chen Inseln Zuflucht fan­den. Die Geschicke und Sit­ten der Asyl­län­der unter­schieden sie voneinan­der, jedoch blieben sie im Glauben und darüber hin­aus durch eine beson­dere Hermeneu­tik vere­int, durch das Bedürf­nis und die Nei­gung, in allem eine ihren Glauben bestärk­ende Deu­tung zu suchen.

Fort­set­zung am kom­menden Sam­stag, den 8. Novem­ber

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