Hier die Fort­set­zung der Kri­tik von Manès Sper­ber am Ver­hal­ten der “christlichen Zivil­i­sa­tion” in Europa gegenüber den Juden über die Jahrhun­derte hin­weg in seinem Buch “Chur­ban”:
Gewiß, auch bei den Juden gab es Reiche und Arme: in den elen­den Behausun­gen wohn­ten neben völ­lig Mit­tel­losen die Kau­fleute, die dank ihrem Netz inter­na­tionaler Verbindun­gen einen Großteil des Waren­verkehrs zwis­chen den europäis­chen, ori­en­tal­is­chen und afrikanis­chen Län­dern besorgten. Ein von ihnen geze­ich­neter Kred­it­brief wurde über­all hon­ori­ert. Im Krieg wie im Frieden braucht­en Könige und Fürsten ihre Hil­fe, um die Armeen zu bewaffnen und zu ernähren. Man wandte sich an jüdis­che Ärzte und Berater, Unter­händler und Geldlei­her.

Schließlich braucht­en die Mächti­gen die Juden als Sün­den­böcke für ihre eige­nen Ver­brechen und ver­trieben sie, nach­dem sie sie dem Zorn des Volkes aus­geliefert hat­ten. Nach einiger Zeit riefen sie sie jedoch gewöhn­lich zurück. So warf Frankre­ichs König Philippe Auguste all seine Juden in den Kerk­er und zwang sie, ihm ein Lösegeld zu zahlen. Dem Volk gewährte er das Recht, die Juden zu plün­dern und ihnen die Schulden nicht zurück­zubezahlen, sofern es ein Vier­tel des geschulde­ten Geldes dem König abführte.

Den Juden wurde schließlich das Recht auf jede Beruf­stätigkeit genom­men, nur inner­halb des Ghet­tos durften sie ihr Handw­erk ausüben; für die Chris­ten wur­den sie Altk­lei­der­händler, Pfan­dlei­her und Wucher­er. Als solche sind sie dann in die Lit­er­atur, in die Folk­lore, in die antisemi­tis­che Geschichtss­chrei­bung einge­gan­gen. Sie waren keineswegs die einzi­gen Pfan­dlei­her, weit wichtiger als sie waren die Lom­bar­den und die soge­nan­nten Cahorsins, die über­all als wucherische Bankiers und Pfan­dlei­her auf­taucht­en; überdies gab es die von der Kirche geförderten Monts de Piété, die zwar offiziell auf den Zins verzichteten, ihn aber unter anderen Vor­wän­den ein­heim­sten.

Philippe Auguste war nicht der einzige König, der die Juden aus­trieb, dann wieder zurück­holte und sog­ar andere Herrsch­er mit Krieg bedro­hte für den Fall, daß sie ihm »seine« Juden nicht zurück­er­stat­teten. Diese grausame Posse hat sich auf christlich­er Erde oft genug wieder­holt.

Sil­ber, Gold und Schmuck zu besitzen, war die einzige, wenn auch nicht immer wirk­same Sicherung gegen Vertrei­bung und Totschlag. Damit erkauften die Juden das Recht, zu leben, sich niederzu­lassen, und den zeitweili­gen Schutz vor dem Pöbel. Sie waren zur Gewinnsucht verurteilt durch die uner­sät­tliche Hab­sucht jen­er, die die Macht hat­ten, ihnen das Dasein­srecht zu verkaufen oder zu ver­weigern. Nun, so erstaunlich es ins­beson­dere christlichen Lesern erscheinen mag: spätestens seit dem Hochmit­te­lal­ter bis zum 19. Jahrhun­dert war die Juden­heit von Fein­den bedro­ht, die — mit sel­te­nen Aus­nah­men — von Raub- und Habgi­er und Besitzneid besessen waren. Dies verdeck­ten diese Erpress­er mit hehren Vor­wän­den: Sie woll­ten so die Kreuzi­gung Christi rächen oder eine ad hoc aus­gedachte Entwei­hung ein­er Hostie oder einen lügner­isch erfun­de­nen Rit­ual­mord bestrafen. Es war die Epoche der herrschaftlichen, kirch­lichen Räu­ber.

Eine ver­tiefende Analyse zur Genese und Entwick­lung des christlichen Anti­semitismus find­et sich hier. Zur Tat­sache, dass der Begriff “Anti­semtismus” heute oft miss­bräuch­lich als “Anti­semitismus-Keule” einge­set­zt wird, um missliebige, aber berechtigte Kri­tik — aktuell zur Poli­tik Israels — zum Ver­s­tum­men zu brin­gen, find­et sich im Infos­per­ber ein aus­geze­ich­neter Artikel.

Fort­set­zung am kom­menden Sam­stag, den 1. Novem­ber

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