Manès Sperber hatte einen klaren Blick auf das Verhalten der Mehrzahl der Vertreter der “Religion der Liebe” — der Christen in Europa — wenn er festhielt:
Man weiß, daß mit den Kreuzzügen die Epoche des namenlosen Martyriums begann, eine fast lückenlose Abfolge von Unterdrückung und Leiden, aber auch eines aussichtslosen und dennoch sinnvollen Widerstandes.
Wer sein Leiden physisch und psychisch bewältigen will, muß aktiv, erfinderisch und energisch sein; und um eine auf entmenschende Erniedrigung abzielende Unterdrückung zu überstehen, ohne in sich selbst entwürdigt zu werden, muß man täglich aufs neue das Recht auf Achtung vor sich selbst und vor den Eigenen erringen. Wer in einer Welt leben muß, die ihm feindliche oder bestenfalls ungeduldig duldende Fremde ist, der muß die Kraft für zwei neben- und gegeneinander laufende Existenzen aufbringen: Den Juden war der einzelne Glaubensgenosse natürlich eine Person mit den sie kennzeichnenden Eigenschaften, Fähigkeiten und Schwächen; den Christen aber war er nur ein Jude.
Damit sie ihn als solchen erkennen und ihn nicht mit einer Person verwechseln sollten, zwang man ihm äußerliche Merkmale auf — den gelben Lappen, den Spitzhut, den zu langen Rock. Damit aber erzwang man noch mehr: nämlich, daß der so depersonalisierte Mensch sich entsprechend verhalte, demütig, von Furcht beherrscht, also feige, gewohnt, geschlagen zu werden, bemüht, nur ja nicht aufzufallen und niemandem zu mißfallen — somit dem gehässig entstellenden Bilde zu gleichen, das sich der Christ von dem fluchbeladenen Juden machen sollte. Um dieser Karikatur zu gleichen, wurde tatsächlich an zahllosen Orten und während vieler Jahrhunderte eine Art von aufgezwungener Mimikri das Gesetz jüdischen Verhaltens.
Das war der Triumph der Judenfeinde: ihr Opfer mußte mit jedem Worte, mit jeder Gebärde vor aller Welt beweisen, daß man recht hatte, den Juden zu verachten und zu verfolgen. Und natürlich erhärteten diese Beweise auch die Juden der Ghettos: auf engstem Raum zusammengedrängt, gewöhnlich in unmittelbarer Nähe stinkender Abwässer und abscheulicher Misthaufen, in Gäßchen, in die kein Sonnenstrahl drang, lebte, betete und arbeitete man unter dem erkauften Schutz kleiner oder größerer Machthaber. In der Judengasse »repersonalisierten« sich die Ausgestoßenen. Was da fast immer gelang, war eine höchst bedeutsame seelische Leistung, eine ungewöhnliche Überkompensation, jenes schöpferische Trotzdem, dank dem sich der Geächtete von der Demütigung befreit und über seine Erniedrigung erhebt.
Dieses aber konnte nur dank der Bibel, dem Talmud und allen exegetischen und mystischen Schriften gelingen. Im Exil wurden die Worte Festungen und Bollwerke, welche die Verfolgten zwar nicht vor Raub und Totschlag schützten, aber ihnen den Sinn ihres Daseins und ihrer Leiden täglich bewiesen. Jerusalem blieb Erinnerung und Zukunftstraum zugleich. Jochanan-ben-Sakkai war mit ihnen, denn fast jede Judengemeinde verwandelte sich in ein Javne. Nie vorher waren die Juden ihren Gesetzen so völlig und bedingungslos treu geblieben, nie hatten sie der Lehre so viel Zeit und solch geradezu leidenschaftliche Aufmerksamkeit gewidmet wie in der Diaspora — angesichts einer Welt, in der die Gewißheit, kein Jude zu sein, noch dem verächtlichsten Christen Stolz einflößte und ein unerschütterliches Gefühl der Überlegenheit gegenüber der ganzen Judenheit.
Mitten in ihrem mit Ketten abgesperrten Viertel, dessen Wächter ihnen nächtens den Zutritt zur Stadt verwehrten, innerhalb ihrer vier Wände waren die Bewohner des Ghettos keineswegs unglücklich, Juden zu sein. Je schwerer man ihnen das Leben machte, um so inniger glaubten sie an ihre Auserwähltheit und das nahe Kommen des Messias.
Es ist legitim, angesichts der Gaza-Katastrophe das absolut menschenverachtende Verhalten und die Aktionen der aktuellen Regierung Netanyahus mit seinen rechtsradikalen Kumpanen anzuprangern, aber dies sollte immer im Bewusstsein der Diskriminierung und Verfolgung von Juden über Jahrhunderte hinweg im christlichen Europa geschehen. Dass der Antisemitismus jederzeit wieder seine üble Fratze zeigen kann, beweisen die kürzlich veröffentlichten Chats von Führern der “Young Republicans”, die ungehemmt von Hitler und Gaskammern schwadronierten …
Fortsetzung am kommenden Samstag, den 25. Oktober
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