Nach dem nicht selb­st gewählten, bis zu einem gewis­sen Grade pas­siv­en Erleben des jüdis­chen Milieus im Schtetl gelangte Sper­ber in Wien mit der Mit­glied­schaft im Schomer zu einem aktiv­en Jude­sein, wobei er vor­erst bei ein­er wenig reflek­tierten Über­nahme ein­er kollek­tiv­en Iden­tität blieb. In der Folge trat die Beschäf­ti­gung mit der jüdis­chen Frage in den Hin­ter­grund. Adler, der zum Protes­tantismus kon­vertiert war, the­ma­tisierte die Frage nie bre­it­er, und die kom­mu­nis­tis­che Ide­olo­gie set­zte die Hin­fäl­ligkeit der jüdis­chen Frage mit der bald erwarteten Aufhe­bung der Klas­sen­ge­gen­sätze gle­ich. Möglicher­weise dis­tanzierte sich Sper­ber in den 30er Jahren sog­ar bis zu einem gewis­sen Grad von sein­er jüdis­chen Herkun­ft. 
Mit der Ver­fol­gung und Ver­nich­tung der Juden durch den Nation­al­sozial­is­mus hob die Auseinan­der­set­zung mit der jüdis­chen Frage wieder an, jet­zt aber reflek­tiert, los­gelöst von ide­ol­o­gis­chen Schranken und mit ander­er Qual­ität. Denn nach der früheren Nega­tion des Glaubens, von der aus Sper­ber zu ein­er kom­mu­nis­tis­chen, athe­is­tis­chen Posi­tion gelangt war, hat­te er auch die Nega­tion negiert und kehrte also nicht zirke­lar­tig zum Ursprung zurück, son­dern wandte sich der jüdis­chen Frage auf ein­er neuen Ebene zu. So ist die Reise zurück — um das Bild wieder aufzunehmen — doch keine Rück­kehr. (Isler, p. 76)

Diese aus­geze­ich­nete Zusam­men­fas­sung von Sper­bers Weg hin zu ein­er ver­tieften Auseinan­der­set­zung mit seinen jüdis­chen Wurzeln in Rudolf Islers Mono­gra­phie über Sper­ber soll über­leit­en zu dessen 1979 erschiene­nen Essay-Samm­lung “Chur­ban oder Die unfass­bare Gewis­sheit”. Die Beschäf­ti­gung mit seinen Gedanken zum Juden­tum, zum Zion­is­mus und zum Staat Israels kön­nte angesichts der aktuellen Lage im Nahen Osten und der Entwick­lung dieses Staates in den let­zten Jahren aktueller nicht sein.

Das Buch begin­nt mit ein­er Erk­lärung des Begriffs “Chur­ban” und ein­er Rückschau auf das Schick­sal seines Geburtsstädtchens Zablo­tow:
CHURBAN (hebr.): Ver­wüs­tung, Ver­nich­tung. Dieses Wort beze­ich­net ins­beson­dere die Zer­störung des Ersten Tem­pels (587 v. Chr.) durch Nebukad­nezar und die des Zweit­en Tem­pels (70) durch Titus.
Chur­ban, ein in bei­den jüdis­chen Sprachen geläu­figes Wort, beze­ich­net in der jid­dis­chen Lit­er­atur die seit 1940 von Hitler und seinen Kom­plizen organ­isierte Aus­rot­tung des größeren Teils der europäis­chen Juden­heit.

ZABLOTOW, der Geburt­sort des Autors, war von 1112 bis 1918 öster­re­ichisch; von 1918 bis 1939 pol­nisch und ist seit 1945 sow­jet-ukrainisch.
Im Jahre 1164 zählte das Städtchen 968 jüdis­che Ein­wohn­er und im Jahre 1910 2111. Während der sow­jetis­chen Okku­pa­tion 1939–41 wur­den alle jüdis­chen Insti­tu­tio­nen abgeschafft, alle Organ­i­sa­tio­nen ver­boten. Bald nach dem Ein­marsch deutsch­er Trup­pen über­fie­len pogromierende Ukrain­er die jüdis­che Bevölkerung. Die Deutschen ihrer­seits set­zten einen Juden­rat ein, den sie aber wieder auflösten, weil er sich weigerte, ihre Befehle auszuführen.
Am 22. Dezem­ber 1941 erfol­gte die erste »Aktion« des Chur­ban: 900 Juden wur­den getötet und ent­lang der Land­straße, die ins Nach­bar­dorf Tro­jce führte, eingeschar­rt. 100 Juden wur­den in Zablo­tow selb­st erschossen. Am 11. April 1942 erfol­gte die Depor­ta­tion von 250 Juden, die im Aus­rot­tungslager Belzec umge­bracht wur­den. Zwei Wochen später wur­den die noch verbliebe­nen jüdis­chen Ein­wohn­er nach Kolomea evakuiert. Dort star­ben viele von ihnen eines »natür­lichen« Todes, an epi­demis­chen Krankheit­en oder Hungers. Die Über­leben­den wur­den im Jan­u­ar 1943 als Opfer ein­er let­zten »Aktion« im Ghet­to von Kolomea umge­bracht.

Der birsfaelder.li-Schreiberling nimmt näch­ste Woche eine Auszeit. Die Fort­set­zung erfol­gt deshalb am Sa, den 11. Okto­ber.

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