Das von Manès Sper­ber und Arthur Koestler 1950 ver­fasste Man­i­fest feiert dieses Jahr den 75. Geburt­stag. Geschichtliche Doku­mente dieses Alters haben in der Regel an Aktu­al­ität einge­büsst, sind “geschichtlich” gewor­den. Das Man­i­fest des Kon­gress­es für kul­turelle Frei­heit ist nicht nur aktuell geblieben, son­dern hat inzwis­chen angesichts der sich ver­dunkel­nden poli­tis­chen “Wolken” an Wichtigkeit noch gewon­nen. Das macht die Lek­türe dieses bedeu­ten­den Zeit­doku­ments sofort klar. Hier ist es in sein­er vollen Länge:

Man­i­fest

1. Wir hal­ten es für eine axioma­tis­che Wahrheit, daß die Frei­heit des Geistes eines der unveräußer­lichen Men­schen­rechte ist.

2. Diese Frei­heit beste­ht in erster Lin­ie im Recht des Einzel­nen, eigene Mei­n­un­gen zu bilden und zu äußern, und zwar namentlich auch dann, wenn sie von den Mei­n­un­gen der Obrigkeit abwe­ichen. Der Men­sch wird zum Sklaven, wenn er des Recht­es beraubt wird, „nein“ zu sagen.

3. Frei­heit und Friede sind untrennbar ver­bun­den. In jedem Lande, unter jedem Regime, fürchtet die über­wälti­gende Mehrheit des Volkes den Krieg und lehnt ihn ab. Die Kriegs­ge­fahr ist gegen­wär­tig, sobald eine Regierung die Organe der Volksvertre­tung knebelt und damit das Volk außer­stande set­zt, zum Krieg „nein“ zu sagen.

Der Friede kann nur gesichert wer­den, wenn jede Regierung ihre Hand­lun­gen erstens der Kon­trolle ihres Volkes unter­wirft und sie zweit­ens, insofern sie den Frieden bedro­hen kön­nen, ein­er inter­na­tionalen Autorität unter­stellt, deren Beschlüsse sie als bindend anerken­nt.

4. Wir glauben, daß die Haup­tur­sache der gegen­wär­ti­gen weltweit­en Unsicher­heit durch die Poli­tik von Regierun­gen entste­ht, die sich mit Worten zum Frieden beken­nen, sich aber weigern, die grundle­gen­den Bedin­gun­gen ein­er solchen dop­pel­ten Kon­trolle auf sich zu nehmen. Die Geschichte lehrt, daß man Kriege unter jedem beliebi­gen Schlag­wort vor­bere­it­en und führen kann, auch unter dem Schlag­wort des Friedens. „Frieden­skam­pag­nen“, hin­ter denen kein Beweis eines echt­en Friedenswil­lens ste­ht, gle­ichen dem Papiergeld ein­er ungedeck­ten Währung. Die Welt wird erst dann geistig gesun­den und ihre Sicher­heit wiederfind­en, wenn dieses Falschgeld des Friedens nicht mehr für bare Münze genom­men wird.

5. Frei­heit beruht darauf, daß der Aus­druck abwe­ichen­der Mei­n­un­gen geduldet wird. Es ist logisch unmöglich und moralisch nicht annehm­bar, sich auf den Grund­satz der Duld­samkeit zu berufen, um eine Prax­is der Unduld­samkeit zu recht­fer­ti­gen.

6. Keine poli­tis­che Ide­olo­gie, keine ökonomis­che The­o­rie kann sich das all­ge­meine Recht anmaßen, den Begriff der Frei­heit zu bes­tim­men. Vielmehr muß der Wert aller Ide­olo­gien und The­o­rien nach dem Aus­maß der prak­tis­chen Frei­heit beurteilt wer­den, die sie dem Einzel­nen gewähren. Wir glauben fern­er, daß keine Rasse, Nation, Klasse oder Glaubens­ge­mein­schaft das auss­chließliche Recht beanspruchen darf, die Idee der Frei­heit zu verkör­pern oder irgen­dein­er Gruppe von Men­schen im Namen ein­er noch so edlen The­o­rie die Frei­heit vorzuen­thal­ten.

Jede men­schliche Gemein­schaft kann und soll nach dem Maß und der Art der Frei­heit bew­ertet wer­den, die sie ihren Mit­gliedern ein­räumt.

7. In Zeit­en der Not wird die Frei­heit des Einzel­nen im wahren oder mut­maßlichen Inter­esse der Gemein­schaft Ein­schränkun­gen unter­wor­fen. Der­ar­tige Ein­schränkun­gen soll­ten sich auf ein Min­dest­maß deut­lich abgesteck­ter Gebi­ete beziehen, sie soll­ten fern­er immer als zeitweilige und begren­zte Notlö­sun­gen und als ein der Gemein­schaft aufer­legtes Opfer betra­chtet wer­den; schließlich soll­ten die frei­heits­beschränk­enden Maß­nah­men selb­st immer der Kri­tik und der demokratis­chen Überwachung unter­liegen. Nur dann beste­ht die Aus­sicht, daß zeitweilige Not­maß­nah­men, welche die indi­vidu­elle Frei­heit ein­schränken, nicht zur dauern­den Tyran­nei ausarten.

8. In total­itären Staat­en wer­den heute Ein­schränkun­gen der Frei­heit von vorn­here­in nicht als ein vorüberge­hen­des Opfer hingestellt, das man dem Volke aufer­legt, son­dern im Gegen­teil als ein Tri­umph des Fortschritts und als die Errun­gen­schaft ein­er über­lege­nen Zivil­i­sa­tion. Wir sind der Ansicht, daß sowohl die The­o­rie wie die Prax­is dieser Staat­en den Grun­drecht­en des Indi­vidu­ums und dem eigentlichen Streben der Men­schheit zuwider­läuft.

9. Wir glauben, daß es keine Sicher­heit in der Welt geben kann, solange die Men­schheit in bezug auf die Frei­heit in Habende und Habenichtse aufgeteilt bleibt. Die Vertei­di­gung der beste­hen­den Frei­heit­en und die Wiederer­oberung der ver­lore­nen Frei­heit­en ist ein einziger, unteil­bar­er Kampf.

10. Wir hal­ten die Gefahr, die sich im total­itären Staat verkör­pert, für um so größer, als die Wirk­samkeit sein­er Zwangsmit­tel die aller früheren Despo­tien der Geschichte über­trifft. Der Bürg­er eines solchen Staates muß sich nicht nur aller Ver­stöße gegen die Geset­ze enthal­ten, son­dern auch seine Gedanken und Hand­lun­gen rest­los ein­er beste­hen­den Sch­ablone anpassen. Die überkommene Form der „neg­a­tiv­en Tyran­nei“ ist durch eine „pos­i­tive Tyran­nei“ abgelöst wor­den: man wird jet­zt auf Grund so undeut­lich umschrieben­er, jede Ausle­gung zulassender Ankla­gen ver­fol­gt und verurteilt, wie etwa, ein „Volks­feind“ oder ein „sozial unzu­ver­läs­siges Ele­ment“ zu sein.

11. Wir glauben aus diesem Grunde, daß The­o­rie und Prax­is des total­itären Staates die größte Bedro­hung darstellen, der sich der Men­sch in seinem geschichtlichen Dasein bish­er gegenüberge­se­hen hat.

12. Gle­ichgültigkeit und Neu­tral­ität kämen angesichts ein­er solchen Dro­hung einem Ver­rat an den wesentlich­sten Werten der Men­schheit gle­ich, ein­er Abdankung des freien Geistes. Von unser­er Antwort auf diese Bedro­hung hängt es ab, ob das Men­schengeschlecht den Weg zum Konzen­tra­tionslager-Staat oder zur Frei­heit ein­schla­gen wird.

13. Die Vertei­di­gung der kul­turellen Frei­heit verpflichtet uns heute, unseren Beitrag zur Entwick­lung ein­er Kul­tur zu leis­ten, welche die von der gegen­wär­ti­gen Wel­trev­o­lu­tion aufge­wor­fe­nen Prob­leme geistig bewältigt.

14. Wir richt­en dieses Man­i­fest an alle Men­schen, die den fes­ten Willen haben, beste­hende Frei­heit­en zu vertei­di­gen, ver­lorene Frei­heit­en wiederzugewin­nen und neue Frei­heit­en zu schaf­fen.

Hier nach: Man­i­fest, in: Der Monat, Nr. 22/23 (1950), S. 483–484.

Fort­set­zung am kom­menden Sam­sag, den 20. Sep­tem­ber

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