Manès Sper­ber kehrte 1945 nach dem Ende des Kriegs nach Paris zurück, wo er und Jen­ka endlich heirat­en kon­nten. Dort nahm er seine fre­und­schaftliche Beziehung zu André Mal­raux wieder auf. Der war inzwis­chen unter der pro­vi­sorischen Regierung De Gaulles Infor­ma­tion­s­min­is­ter gewor­den. Dank dessen Ver­mit­tlung
ergab sich für Sper­ber die Möglichkeit, als Regierungs­beauf­tragter in den beset­zten Gebi­eten für den Wieder­auf­bau von Presse, Rund­funk und Ver­lagswe­sen zu arbeit­en. Neben Mal­raux und Sper­ber war auch Ray­mond Aron, der Kabi­netts­di­rek­tor, an dieser Auf­gabe beteiligt. Auf dem Hin­ter­grund ein­er ähn­lichen Ein­schätzung der poli­tis­chen und kul­turellen Sit­u­a­tion ver­fol­gten sie vor allem zwei Ziele. Zum einen woll­ten sie eine von demokratis­chen Prinzip­i­en getra­gene Kul­tur möglichst bre­it­en Bevölkerungskreisen zugänglich machen. Zum anderen woll­ten sie ver­hin­dern, dass nach jahre­lan­gen Vere­in­nah­mungen von Presse, Rund­funk und Ver­lagswe­sen durch die Nazis diese Bere­iche nun von kom­mu­nis­tis­chen Grup­pierun­gen beherrscht und dominiert wür­den. 

Sper­ber beschreibt diese Gefahr in sein­er Auto­bi­ogra­phie:
In der franzö­sis­chen wie in der amerikanis­chen Besatzungszone wurde die gle­iche poli­tis­che Posse gespielt: Kom­mu­nis­ten und deren Sym­pa­thisan­ten bekan­nten sich nicht offen zu ihrer Partei, son­dern stell­ten sich als aufrichtige Demokrat­en vor. Sie überzeugten nicht nur die als Majore und Ober­sten verklei­dete Bab­bitts (“Spiess­er”), son­dern auch die franzö­sis­chen Okku­pan­ten davon, daß ger­ade sie als Demokrat­en die ver­läßlich­sten Mitar­beit­er der Besatzung seien — zum Unter­schied von den Sozial­is­ten, die ja den sozialen Frieden stören woll­ten und sofort die poli­tis­che Frei­heit der Deutschen ver­langten. So geschah es, daß stock­kon­ser­v­a­tive Offiziere getarn­ten Kom­mu­nis­ten den Rund­funk und die Presse über­ant­worten woll­ten, um Deutsch­land vor dem Sozial­is­mus zu ret­ten. In der franzö­sis­chen Zone galt es eine Zeit­lang als Gipfel der poli­tis­chen Weisheit, kein­er­lei Partei anzuerken­nen, son­dern an ihrer Stelle einen Antifaschis­tis­chen Kampf­bund, der in der Tat gar nicht existierte und als eine kom­mu­nis­tis­che Tarnor­gan­i­sa­tion aufge­zo­gen wer­den sollte.

Eine weit­ere inter­es­sante Beobach­tung machte er zum Ver­hal­ten der Deutschen gegenüber den Besatzungsmächt­en:
In der Tat ergab sich über­all die schein­bar para­doxe, aber psy­chol­o­gisch und poli­tisch leicht erk­lär­bare Sit­u­a­tion, daß jene, die den Dro­hun­gen und Lock­un­gen der Nazis wider­standen hat­ten, die staats­bürg­er­liche Frei­heit auch in der Okku­pa­tion vertei­digten. Da sie kein schlecht­es Gewis­sen hat­ten, mußten und woll­ten sie keine Beweise von Dien­st­fer­tigkeit erbrin­gen — sie waren zur Mitar­beit bere­it, aber nicht zur Unter­w­er­fung. Sie nah­men das Recht in Anspruch, zu kri­tisieren und in der Besatzung einen notwendi­gen, aber vorüberge­hen­den und jeden­falls prekären Zus­tand zu sehen, dessen Härte es zu mildern galt — sowohl im Inter­esse des Volkes wie des zukün­fti­gen Friedens.
Eben­so auf­schlußre­ich ist die Tat­sache, die man über­all fest­stellen kon­nte: ein unglück­lich­es Bewußt­sein, ein unab­weis­bares Gefühl der Mitver­ant­wortlichkeit für die im Namen Deutsch­lands verübten Ver­brechen fand man nur bei Män­nern und Frauen, die immer Geg­n­er des Nazis­mus gewe­sen waren und unter ihm selb­st sehr gelit­ten hat­ten. Sie, die Unschuldigen, haben das Gefühl der Scham über das Geschehene spät oder nie über­wun­den. Sie waren es auch, die während der Jahre der allmächti­gen Besatzung den Mut auf­bracht­en, für das Wohl des eige­nen, lei­den­den Volkes zu kämpfen und für das Recht und die Frei­heit ander­er Völk­er einzuste­hen.

Auch wenn sich Sper­ber nicht mehr vorstellen kon­nte, in Deutsch­land zu leben, sah er sich doch in der Pflicht, seinen Beitrag für eine neue demokratis­che Gesellschaft zu leis­ten. Er gab in Mainz die Zeitschrift “Umschau” her­aus. (Inter­es­san­ter­weise wird das zwar auf der Wikipedia-Biogra­phie­seite bestätigt, auf der Wikipedi­a­seite zur Zeitschrift hinge­gen nicht).
Im Geleit­wort der “Umschau” schreibt Sper­ber, sie solle “dazu beitra­gen, die Ent­frem­dung zwis­chen den Deutschen und der Welt aufzuheben; sie will mit pos­i­tiv­en Mit­teln den deutschen Egozen­tris­mus bekämpfen”. Sper­ber stand der Bevor­mundung der Okkupierten skep­tisch gegenüber. Er set­zte von Anfang an darauf, die anti­nazis­tis­chen Kräfte, dies es für ihn in Deutsch­land dur­chaus gab, zu stärken, ihnen behil­flich zu sein, Presse, Rund­funk und Büch­er selb­st zu gestal­ten. (…)
Sper­ber ver­stand sich in den Kon­tak­ten, die mit der deutschen Bevölkerung und mit deutschen Kul­turschaf­fend­en zus­tande kamen, nicht als Ankläger, als Richter oder als rächen­des Opfer; eine Kollek­tivschuld der Deutschen lehnte er ab.

Eine angesichts seines Schick­sals ein­drück­liche und reife Hal­tung. Gle­ichzeit­ig musste er aber fest­stellen,
dass in Deutsch­land die durch­schnit­tliche Bere­itschaft, sich mit der Ver­gan­gen­heit zu befassen und sich mit der eige­nen Schuld auseinan­derzuset­zen, sehr ger­ing war. Stattdessen trat ihm fast immer ein uneingeschränk­ter Oppor­tunis­mus ent­ge­gen: So wie sich offen­bar die meis­ten mit dem Naziregime arrang­iert hat­ten, so beflis­sen arbeit­eten sie jet­zt mit der Besatzungs­macht zusam­men — unter Unschulds­be­teuerun­gen bezüglich ihrer Ver­ant­wor­tung in der Naz­izeit. (sämtliche Auszüge aus Isler p. 70/71)

Das änderte sich bekan­ntlich erst in den 60er-Jahren wirk­lich, als eine neue Gen­er­a­tion anf­ing, unbe­queme Fra­gen zu stellen …

Fort­set­zung am kom­menden Fre­itag, den 5. Sep­tem­ber.

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