Obwohl Manès Sperber nach dem kurzen Lageraufenthalt bei der Familie Maurer eine liebevolle Aufnahme erlebte, Anschluss an die Künstlerkreise in Zürich fand, Zugang zur Bibliothek der Museumsgesellschaft erhielt und schliesslich mit Jenka und seinem Sohn zusammenziehen durfte, war seine Rückerinnerung an seinen Aufenthalt in der Schweiz ziemlich negativ geprägt. Rudolf Isler meint dazu in seiner Sperber-Biographie,
… dass das Insgesamt von Lebenssituation und Zeitsituation Sperbers Beurteilung der drei Jahre im Schweizer Exil erheblich überschattete. Waren neben ganz unglücklichen Jahren einige Momente in Paris doch mit Hoffnung und einem gewissen Optimismus erfüllt, so war zur Zeit von Sperbers Schweizer Jahren globalpolitisch jenes Stadium überschritten, in dem sich für ihn aus dem Zeitgeschehen noch Hoffnung und Optimismus ableiten liessen. Gleichzeitig war er zu vollständiger Passivität verurteilt und konnte nicht einmal den kleinsten Beitrag zur Verkürzung der europäischen Katastrophe beitragen. (Isler, p. 67)
Dazu kam, dass er 1943 von einem aus Treblinka entwichenen Augenzeugen von dem Massenmord an den europäischen Juden erfuhr. Auch wenn Sperber in Galizien eine zutiefst vom Chassidismus geprägten Erziehung erfahren und in Wien begeistert beim Haschomer Hatzair mitgemacht hatte, war die Tatsache des Jude-Seins später in den Hintergrund gerückt. Dies änderte sich nun angesichts der unfassbaren Katastrophe, das das europäische Judentum vor seinen Augen erlitt.
Sperbers Verhältnis zu seinem eigenen Judesein veränderte sich von diesem Zeitpunkt an ganz entscheidend. Die Frage der eigenen jüdischen Identität und die Frage der Zukunft des jüdischen Volkes wurden von nun an zentrale Themen. Ausgehend von der Feststellung, dass seit jener Zeit jahrzehntelang kaum ein Tag vergangen sei, an der er die Gleichgültigkeit habe vergessen können, mit der die Welt die Vernichtung des jüdischen Volkes habe geschehen lassen, fährt er fort: “Ich bin ein europäischer Jude, der jeden Augenblick dessen bewusst bleibt, ein Überlebender zu sein, und der nie die Jahre vergisst, in denen ein Jude zu sein ein todeswürdiges Verbrechen gewesen ist.” (Isler, p. 67)

Das Zitat stammt aus seiner späteren Publikation “Churban oder die unfassbare Gewissheit”, einem Sammelband seiner Reflexionen zum eigenen Judesein und der jüdischen Tradition. Wir werden darauf noch näher eingehen.
Eigentlich hatte Sperber geplant, sich nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus am Wiederaufbau eines neuen Deutschlands zu beteiligen. Das war ihm nun nicht mehr möglich. In seiner Autobiographie schrieb er dazu:
Mir wurde es in jenen Stunden gewiß, daß Deutschland für mich fortab nie mehr das bedeuten könnte, was es mir bis zu diesem Augenblick, bis zu meinem 37. Lebensjahr trotz allem gewesen war. Der Bruch ist unheilbar geblieben. So lebte ich von dieser Zeit an im Bewußtsein, daß ein Großteil Europas am Tage des Sieges nur ein Trümmerhaufen sein würde, daß die Welt meiner Kindheit vernichtet war, daß ihre Bewohner nicht mehr auf Erden weilten. (…)
Aber auch mit den Siegern haderte er:
Unsere Feinde verdienten tausendfach ihre Niederlage, ihren totalen Zusammenbruch, aber die Sieger, glaubte ich, verdienten nicht den Sieg. Sie hatten den Aufständischen des Warschauer Ghettos nicht beigestanden, ihnen nicht einmal symbolisch ein Zeichen der Solidarität oder der Bewunderung gegeben. Sie griffen die Vernichtungslager nicht an, obschon ihre Kampfflugzeuge es leicht hätten tun können. Und ein Jahr später kamen sie den Aufständischen Warschaus nicht zu Hilfe; sie blieben tatenlos vom Augenblick an, da Stalin ihnen die Benutzung der russischen Flugplätze untersagte.
In den Nächten vor dem Einschlafen unterbrach ich oft meine Gedanken an die Tyrannen, ich stand unter dem Zwange, die Bitternis mitzuempfinden, welche die völlig vereinsamten Insurgenten im Warschauer Ghetto erfüllte, nachdem sie die letzten Patronen verschossen hatten. Sie dachten an die Juden in der freien Welt, die mit ihren kleinen Sorgen und ihren Freuden dahinlebten, als ob alles seinen rechten Gang ginge.
»Wie hat dir dein Bruder geholfen?« fragte man den verhungernden, obdachlosen Mann. »Mit einem Seufzer nur, aber mit welch’ tiefem Seufzer,« war die Antwort. Ach, wie der Mangel an realistischer Phantasie die Gleichgültigkeit fördert, die Tatenlosigkeit und das Vergessen.
Fortsetzung am kommenden Freitag, den 29. August
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H.R. Schiesser (Manès-Sperber-Archiv)
Aug. 25, 2025
Folge 31
Gleich im 1. Absatz am Ende des einleitenden Satzes zum Isler-Zitat schlich sich wieder der Rolf Isler ein.
Text neben dem Bild des Churban-Buches:
“Das Zitat stammt aus seiner späteren Publikation “Churban oder die unfassbare Gewissheit”, einem Sammelband seiner Reflektionen zum eigenen Judesein und der jüdischen Tradition.”
Korrektur: Reflexionen statt Reflektionen