Nach seinem geglück­ten Über­gang bei Les Crosets im Wal­lis und sein­er Ankun­ft in Zürich meldete er sich bei der Kan­ton­spolizei, denn er hat­te erfahren, dass Flüchtlinge, wenn sie min­destens zwölf Kilo­me­ter in die Schweiz hineingekom­men waren, nicht mehr zurück­geschickt wur­den. Am 13. Okto­ber kam er in das Internierungslager Giren­bad bei Hin­wil.

In Giren­bad wurde er anhand eines fün­fzehn­seit­i­gen For­mu­la­rs nochmals genau zu sein­er Per­son befragt. Inter­es­sant ist, dass Sper­ber bei der Beant­wor­tung der Fra­gen hier seine antifaschis­tis­che Hal­tung ganz in den Hin­ter­grund rück­te. Er beze­ich­nete sich von der Nation­al­iät her als Polen, unter Kon­fes­sion gab er “Israelit” an, als erlern­ter Beruf erscheint “Indi­vid­u­alpsy­chol­o­gis­ch­er Heilpäd­a­goge” und als aus­geübter Beruf “Schrift­steller”. Als bish­eri­gen Aufen­thalt­sort gab er für die Zeit von 1933 bis 1937 fälschlicher­weise Öster­re­ich an und verdeck­te damit seine kom­mu­nis­tis­chen Aktiv­itäten in Paris. Zum Grund sein­er Flucht aus Frankre­ich schrieb er: “um der Depor­ta­tion zu ent­ge­hen” … Dass er wegen sein­er poli­tis­chen Gesin­nung ver­fol­gt würde, verneinte er, fügte aber bei, dass er kul­tur­poli­tisch gegen Dika­turen im all­ge­meinen und gegen den Nation­al­sozial­is­mus speziell Stel­lung genom­men habe, was aus sein­er Pub­lika­tion “Zur Analyse der Tyran­nis” her­vorge­he. … Bei der Angabe der Ver­wandten nan­nte Sper­ber nur seinen Sohn Dan, nicht aber dessen Mut­ter. Sie kon­nte er nur als Lebens­ge­fährtin angeben. Das trug ihm zusät­zliche Schwierigkeit­en ein, wenn er sie in Lau­sanne besuchen wollte. Dort war sie unterge­bracht wor­den, nach­dem sie am 5. Okto­ber eben­falls in die Schweiz gekom­men war. (Isler, Manès Sper­ber, p. 63)

Rudolf Isler kom­men­tiert diese par­tiell ver­schleiernde Antworten so:
Sper­ber hat sich­er unter dem Gesicht­spunkt der grösst­möglichen Nüt­zlichkeit geant­wortet. Er hat seine kom­mu­nis­tis­che Ver­gan­gen­heit völ­lig aus­ge­blendet, dage­gen seine frühere pyschol­o­gis­che und päd­a­gogis­che Tätigkeit bre­it dargelegt. Dass dies aber nicht nur Aus­druck poli­tis­chen Kalküls, son­dern auch ein Teil sein­er dama­li­gen Iden­tität gewe­sen sein kön­nte, wird dadurch gestützt, dass Sper­ber kurz vor sein­er Aus­reise aus der Schweiz sehr ern­sthaft in Betra­cht zog, eine Auf­gabe in der Betreu­ung der aus dem Konzen­tra­tionslager Buchen­wald geretteten Kinder anzunehmen. (p. 64)

Die Hal­tung Sper­bers gegenüber dem Internierungslager war zwiespältig. Ein­er­seits beklagte er die völ­lige Recht­losigkeit der Internierten, denen selb­st der Ver­such, sich zu beschw­eren, streng­stens ver­boten wor­den sei, ander­er­seits begann er im Lager Vorträge zu hal­ten und unter den Insassen Diskus­sio­nen zu organ­isieren, sodass ihm der Lagerkom­man­dant sog­ar für den pos­i­tiv­en Ein­fluss auf die Lager­stim­mung dank­te. Sein Aufen­thalt war jedoch rel­a­tiv kurz, denn schon im Jan­u­ar 1943 wurde er wegen eines aus­ge­broch­enen Geschwürs im Zwölffin­ger­darm  in das Spi­tal in Rüti ver­legt. Dank der Ver­mit­tlung von Fre­un­den und dem evan­ge­lis­chen Flüchtlingswerk der Schweiz fand er schliesslich Unterkun­ft bei der Pfar­rfam­i­lie Mau­r­er in Zürich. Manès Sper­ber hält dazu in sein­er Auto­bi­ogra­phie fest:

Die Begeg­nung mit Adolf und Luise Mau­r­er gewann eine ungewöhn­liche Bedeu­tung für mich — und dies nicht nur, weil sie mich, den Frem­den, den ungläu­bi­gen Juden, vom ersten Augen­blick wie einen lieben Gast auf­nah­men und sich auch später unser Wohl angele­gen sein ließen. Diese Beziehung sollte zu ein­er dauern­den, bedeu­tungsvollen Fre­und­schaft wer­den, weil der Pfar­rer und seine Frau wie Chris­ten der Berg­predigt lebten und han­del­ten. Ich hat­te immer gedacht, daß es wohl solche Chris­ten geben müßte, und nun ent­deck­te ich sie im Pfar­rhaus in der Halden­straße. Solche Men­schen recht­fer­ti­gen nicht nur ihr eigenes, son­dern unser aller Dasein auf Erden; ihretwe­gen leuchtet das Licht selb­st in der Fin­ster­n­is.

Der Pfar­rer Adolf Mau­r­er war auch ein Dichter, der vie­len Gläu­bi­gen in der See­len­not Mut und Hoff­nung einge­flößt hat. Zweifel­los hätte seine Dich­tung einen beträchtlichen Tiefen­gang erre­icht und unge­wohnte Aus­drucks­for­men gefun­den, wenn seine Beziehung zu Gott weniger har­monisch gewe­sen wäre und er den Kon­flik­ten mit ihm nicht aus­gewichen wäre. Manch­mal will’s mir scheinen, daß Chris­ten zuweilen davor zurückscheuen, mit Gott zu hadern, weil sie befürcht­en, damit Jesu Chris­to wehzu­tun. Lieber erk­lären sie, wie es heute in gewis­sen Kreisen geschieht, Gott für tot. Mein Pfar­rer aber liebte Gott um Gottes willen und war sein treuer Knecht bis zu dem let­zten Tage seines 93. Leben­s­jahres.

Während einiger Jahrzehnte war er der Her­aus­ge­ber des Zwingli-Kalen­ders; in diesem Almanach druck­te er drei jüdis­che Anek­doten von mir ab. So beg­in­gen wir zusam­men ein Verge­hen gegen die Verord­nung, die aus­ländis­chen Schrift­stellern, vor allem aber den Emi­granten, jede Pub­lika­tion ver­wehrte. Der schweiz­erische Schrift­stellerver­band erin­nerte die Polizei immer wieder öffentlich an ihre Pflicht, aufs streng­ste darüber zu wachen, daß diesem Ver­bot nicht zuwiderge­han­delt werde. Es gab allerd­ings Schrift­steller im Lande, die eben­so öffentlich ihre Scham über die Hal­tung ihrer Kol­le­gen bekun­de­ten.
So jäm­mer­lich und schändlich das Ver­hal­ten manch­er Instanzen auch war und blieb, bis sie unter dem Ein­druck der deutschen Nieder­la­gen allmäh­lich aufhörten, die Flüchtlinge als den Abschaum der Erde zu behan­deln, so machte meines­gle­ichen auch in der schlimm­sten Zeit mit Schweiz­er Män­nern und Frauen Erfahrun­gen, die äußerst ermuti­gend waren und uns vergessen ließen, daß wir häu­fig nur ungeduldig geduldet waren.

Sper­ber blieb etwa ein Jahr bei der Fam­i­lie Mau­r­er. Als Jen­ka, seine Lebens­ge­fährtin und ihr Sohn Dan, die Aufen­thalts­be­wil­i­gung im Kan­ton Zürich erhiel­ten, kon­nte Sper­ber sich sog­ar in einem Haus am Fusse des Utliberges ein­mi­eten, wo die Fam­i­lie bis zur ihrer Rück­kehr nach Paris nach Kriegsende blieb.

Fort­set­zung am kom­menden Fre­itag, den 22. August

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