Angesichts einer immer drohenderen Verhaftung machte sich Manès Sperber schliesslich auf, um “schwarz” in die Schweiz, in den rettenden Hafen, zu gelangen. Freunde hatten ihm eine falsche Identitätskarte verschafft, die ihn als Elsässer auswiesen. Lassen wir ihn die dramatischen Stunden dieser Flucht selber erzählen:
Mit diesem Personalausweis in der Tasche fuhr ich als Bergsteiger mit einem leichten Rucksack am Wochenende in eine savoyische Bergstation, wo mich ein junger Mann namens Henri ansprechen und in eine Hütte zu einem Häusler bringen sollte, der Flüchtlinge über einen Bergpaß in die Schweiz schmuggelte. Henri, der von meinen jungen Freunden in Nizza engagiert worden war, mich so zu retten, war ein Trotzkist, der wußte, daß ich mit der Partei gebrochen, aber mich seither weder den Trotzkisten noch sonst irgendeiner Gruppe angeschlossen hatte. Ohne daß ich es merkte, fuhr er im gleichen Zug wie ich, und danach im gleichen Autobus bis zu jenem Ort, von dem aus wir die Bergwanderung in die Schweiz antreten sollten. Es war nicht das erste Mal, daß er solche Reisen unternahm, er hatte bereits mehreren Männern und Frauen in dieser Weise uneigennützig geholfen. Das Geld, das er dafür bekam, ging an den Hilfsfonds seiner politischen Kampfgruppe.
Wir faßten sofort Zutrauen zueinander und diskutierten über vielerlei, als ob wir frühere Gespräche fortsetzten. Wir blieben mehrere Stunden in der unbeleuchteten Hütte des Schmugglers, der sich anbot, uns inzwischen ein gutes Abendbrot zu servieren, das wir auch sogleich bezahlten. Er vergaß jedoch das Abendessen, vielleicht weil er zuviel trank, und schlief ein. Wie verabredet, weckten wir ihn knapp nach Mitternacht, der Vollmond stand hoch am nur teilweise bewölkten Himmel. Wir folgten ihm, der immer eiliger ausschritt, auf den Fersen, dann nahm ich Abschied von Henri, der sich in keinerlei Gefahr begeben sollte. Ich ging hinter dem Schmuggler einher, oft entschwand er meinem Blick und tauchte unvermutet wieder auf; wir verließen den Pfad und stiegen steil auf. Nach einer Weile blieb er stehen und verlangte seinen Lohn. Er versteckte ihn in den Schuhen, machte noch einige Schritte und dann plötzlich halt. Weiter wollte er nicht gehen, sagte er, ich könnte auch ohne ihn die Grenze finden und müßte nur genau die Richtung beibehalten. Sobald ich auf einen Wald stieß, sollte ich rechts abbiegen und in das Tal hinabsteigen. Er hatte schon das Geld, ich besaß kein Argument und keine Mittel, ihn zur Erfüllung unserer Abmachung zu bewegen.
Da es bekannt war, daß die Grenzwache in diesem Gebiet häufig patrouillierte, horchte ich angestrengt auf jedes Geräusch, gab es jedoch bald wieder auf. Jedenfalls würden die Wächter mich viel früher erspähen als ich sie. Ich hatte die Nacht vorher im Zug verbracht, seit 30 Stunden beinahe nichts gegessen — ich war völlig wehrlos und unfähig zu laufen, überdies wußte ich gar nicht, wo ich war. Das Mondlicht hob alles, was scheinbar zum Greifen nahe war, deutlich hervor und machte es zugleich fast unkenntlich; was ferner lag, schwamm in einem hellen Schein, verlor seine Konturen, die ineinander übergingen. Den Wald gab es nicht oder ich hatte ihn nicht rechtzeitig erkannt; vielleicht war ich nun wieder in Frankreich; ich achtete nicht einmal mehr auf den Steinschlag, den ich selbst immer wieder auslöste.
Als der Tag zu grauen begann, der Himmel hatte sich inzwischen völlig bedeckt, erblickte ich ein Wäldchen; es brauchte noch einige Zeit, bis ich es endlich erreichte. Ich stolperte häufig über Baumstümpfe, dann stürzte ich zu Boden. Ich lehnte meinen Rücken an einen Baum, schob die Hände unter die Achseln, schloß die Augen und schlief ein.
Ich träumte, daß ich tot war. Im Traum wiederholte ich ohne Bedauern: »Nun bin ich tot. Endlich. Ich tu’ nichts mehr, ich muß nicht mehr, ich muß nichts mehr. Endlich!« Als ich erwachte, mit dem Ende versöhnt, aber frierend, da erblickte ich durch die sich verdünnenden Nebelschwaden hindurch in der Ferne ein Tal und drüber eine Kirchturmspitze. Ich lebte also noch und mußte wieder vieles tun: sofort aufstehen zum Beispiel. Einen Augenblick lang fühlte ich es wie einen schmerzlichen Verzicht, weiterleben zu müssen.
Ich fand mich jedoch wieder zurecht, erhob mich mühsam, schob den Rucksack auf die Schulter und zog los; ich hatte ja vor mir die Richtung, die Kirchturmspitze, und wollte hoffen, daß das Tal in der Schweiz lag. Es bedurfte nur einiger Stunden — und ich war gerettet. Ohne zu wissen, wohin ich ging, erreichte ich eine Eisenbahnstation, ein direkter Zug brachte mich ohne Zwischenfall nach Zürich. Im Telephonbuch fand ich die Adresse eines Freundes, seine Frau antwortete am Telephon; ihr Mann hatte sie verlassen. Eine halbe Stunde später war ich in ihrem Haus. Rührende Freundschaft erwartete mich da, Speise, Trank und Zigaretten nach Belieben, ein warmes Bad und ein gutes Bett.
(aus seiner Autobiographie “All das Vergangene”)
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