Dass Manès Sperber in einem chassidischen “Schtetl” aufwuchs, ist für das Verständnis seines Lebens von entscheidender Bedeutung. Es ist deshalb wichtig, einen Blick auf die Entstehung des Chassidismus zu werfen.
Mit der Zerstörung des Tempels in Jerusalem durch die Römer 70 n.Chr. fand das antike Judentum ein abruptes Ende. Die zerstreuten jüdischen Gemeinschaften wurden fortan durch die Rabbiner, die Gelehrten der Tora und des Talmuds, zusammengehalten. Aber eines hatte sich nicht geändert: die Hoffnung auf den Messias.
Das Ende der Welt ist durch Gott bestimmt. Der Gläubige gibt seine Hoffnung nicht auf und hält daran fest, dass nicht Chaos und Vernichtung, sondern Heil für das Volk Israel und alle Völker anbrechen wird. Diese Prophezeiung soll durch den Messias, den verheißenden König der Endzeit, eingeleitet werden und damit die endgültige, vollkommene und alle Bereiche des Lebens in dieser Welt umfassende Gottesherrschaft anbrechen (www.judentum-projekt.de).
Die in ganz Europa zerstreuten jüdischen Gemeinschaften gingen immer wieder durch schwere Zeiten der Diskriminierung und Verfolgung und hielten so die Messiaserwartung am Leben. Friedrich Heer hat dies in seinem Buch “Gottes erste Liebe” höchst eindrücklich geschildert.
Als im 17. Jahrhundert der jüdische Gelehrte Schabbatai Zwi sich als Messias offenbarte, ging eine riesige Welle der Hoffnung durch das europäische Judentum. Umso brutaler war der Schock, als bekannt wurde, dass Zwi nach seiner Verhaftung durch die osmanischen Autoritäten zum Islam konvertiert war. Die Folgen waren gravierend, weil Zwi sich für seinen Messias-Anspruch auf die Kabbala, die jüdische Mystik, berufen hatte. Rabbinischen Autoritäten erklärten ihre Lehren daraufhin als gefährlich, worauf sie im spirituellen Untergrund verschwand. Das führte im Laufe der Zeit zu einer spirituellen Verflachung des jüdischen Lebens, — bis Rabbi Israel ben Elieser, genannt Baal Shem Tov, die Bühne betrat.
Baal Shems — die “Meister des Namens” — waren im aschkenasischen Judentum seit jeher kabbalistische Magier und Wundertäter. So gehört das Portrait, das den Baal Shem Tov darstellen soll, in Wirklichheit zum Kabbalisten, Magier und Alchemisten Chaim S.J. Falk, dem “Baal Shem von London”.
Wenn auch nur ein Teil der Legenden zutrifft, die man dem Baal Shem Tov zuschreibt, muss er eine herausragende Gestalt gewesen sein, die dem Judentum neue spirituelle Impulse schenkte. Die Schulen, die seine Schüler und deren Schüler anschliessend ins Leben riefen, werden unter dem Begriff des Chassidismus zusammengefasst. Gemeinsam war und ist ihnen das Ziel, ein einfaches und gottesfürchtiges Leben in direkter Verbindung mit Gott zu führen. Die grösste chassidische Schule heute ist die Chabad-Bewegung, aber sie ist bei weitem nicht die einzige.
Es ist diese mystische Atmosphäre, in der Manès Sperber wenigstens teilweise noch aufwuchs, und sie hat sein Leben geprägt, auch wenn er sich als Jugendlicher schon bald von allem Religiösen abwandte, um seinen eigenen Weg zu gehen.
Fortsetzung am kommenden Samstag, den 1. Februar
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