Manès Sper­ber wurde zum Glück nicht in einen Keller ein­geliefert, wo SS und SA folterten, son­dern fand sich in ein­er Gemein­schaft­szelle ein­er Polizeikaserne wieder, immer von der Angst gebeutelt, dass die Revolver doch noch gefun­den wür­den.
Die fünf Tage in dieser Zelle, deren Geruch mir Speise und Trank so verekelte, daß ich von jed­er Mahlzeit nur einige Bis­sen hin­un­ter­wür­gen kon­nte, wären ein nicht enden wol­len­der Alp­traum gewe­sen; die Sorge wegen der Waf­fen, die Selb­stvor­würfe und die Verzwei­flung über die zum Ver­häng­nis gewor­de­nen Irrtümer hät­ten mich nicht los­ge­lassen — all das aber wurde tagsüber desak­tu­al­isiert dank dem Ver­trauen, das mich in den lan­gen Stun­den dieser Gefan­gen­schaft mit Men­schen ver­band, die wie ich in die Hand des Fein­des gefall­en waren, von dem sie das Schlimm­ste: Demü­ti­gung, Folter, den Tod befürcht­en mußten.

Ein paar Tage später wurde er in ein anderes Gefäng­nis über­stellt, in eine Einzelzelle:
Ein SS-Mann trat zuerst ein, besichtigte miß­trauisch die schmutzi­gen, stel­len­weise mit Blut bespritzten Wände, stieß den Stiefel an die Bet­tkante, warf einen Blick auf den Kübel an der Tür, dann zum ver­git­terten Fen­ster hin­auf und trat wieder in den Gang. Der Wärter erk­lärte, daß ich mich tagsüber wed­er aufs Bett leg­en noch set­zen durfte, daß ich nicht ver­suchen sollte, zum Fen­ster hin­aufzuk­let­tern, es sei streng­stens ver­boten. Bis auf weit­eres würde ich meine eige­nen Klei­der behal­ten, ich hat­te Anrecht auf ein Stück Seife und ein Hand­tuch, sie lagen auf dem Waschbeck­en. Büch­er aus der Bib­lio­thek gab es nicht, Pakete für meines­gle­ichen auch nicht. Und bis auf weit­eres keine Briefe.

Die ersten bei­den Tage genoss er die Stille, doch dann set­zte beson­ders nachts das Gedankenkarus­sel ein. Sper­ber fiel in eine Phase tiefer Verzwei­flung, bis es ihm gelang, sich mit ein­er bes­timmten Tech­nik “wieder in den Griff zu bekom­men”. Hier seine ein­drück­liche Schilderung:
In der Nacht des drit­ten Tages set­zte eine abscheuliche Selb­stquälerei ein: das fort­ge­set­zte Schwanken zwis­chen ein­er stör­rischen Hoff­nung, ein­er fiebri­gen Erwartung mein­er Freilas­sung, die schon andern­tags oder spätestens Ende der Woche erfol­gen würde, und der Verzwei­flung darüber, daß ich ver­loren war, daß ich selb­st grund­los in die Falle gegan­gen und zweck­los in ihr geblieben war, bis die Tür zufiel. Bald gehörte die Nacht der Hoff­nung, bald waren es die frühen Stun­den des Tages, die mich mit Illu­sio­nen anfüll­ten nach ein­er Nacht, in der eine bösar­tige Verzwei­flung mich zu einem mörderischen Selb­sthaß drängte. Das alles müßte ich, schriebe ich jenen Bericht, hier aus­führlich schildern und dann den selt­samen Prozeß beschreiben, dank dem ich mich vor mir sel­ber ret­tete.

Gegen die »zögernde Attitüde« vor schwieri­gen Entschei­dun­gen wandte ich stets in mein­er Selb­sterziehung wie in der Psy­chother­a­pie den Kun­st­griff der Vorstel­lung vom neg­a­tivsten Fall an. Wie ich ander­norts angedeutet habe, han­delte es sich darum, zu erwä­gen, welche Fol­gen ein Entschluß im schlecht­esten Falle zeit­i­gen kön­nte, und dann zu über­legen, wie schlimm sie wirk­lich wären und was man dann noch tun kön­nte. Nun, ich ret­tete mich durch die Anwen­dung dieser pes­simistis­chen Ermu­ti­gung und fand mich ohne Wehlei­digkeit damit ab, daß ich ver­loren war, daß ich in mehr oder min­der naher Zeit die Zelle lebend ver­lassen würde, aber nur um bei einem »Fluchtver­such« erschossen, mit zwei, drei anderen ermordet zu wer­den.
Ein­er von diesen würde wohl ein poli­tisch wichtiger, bekan­nter Mann sein, die anderen aber gle­ich mir, »Muster ohne Wert«. Ich war das Muster eines Ostju­den, eines Kom­mu­nis­ten, dem es gelun­gen war, sich in städtis­chen und staatlichen Insti­tu­tio­nen bre­itzu­machen und unter dem Vor­wand, Psy­cholo­gie zu lehren, »bolschewis­tisch zer­set­zend« zu wirken und gle­ichzeit­ig die »Weltherrschaft des inter­na­tionalen Juden­tums« zu fes­ti­gen. Ich war keineswegs berühmt, son­dern nur in eini­gen Kreisen bekan­nt — auch das machte mich zu einem Muster­fall, denn solche wie mich gab es viele, ich bot aber überdies einen prak­tis­chen Vorteil: ich war zur Hand.

Wer ohne Hoff­nung lebt, verzweifelt nicht mehr. So war es gewiß die bedeu­tend­ste psy­chol­o­gis­che Leis­tung, die ich je voll­bracht habe, daß ich mich instand set­zte, als Tot­er im Warte­s­tand zu leben. Von da an fürchtete ich nichts mehr — das Spiel war aus­ge­spielt, ich kon­nte nichts mehr ver­lieren. Fort­ab lauschte ich auch nicht mehr, wenn am anderen Ende des lan­gen Ganges, wo sich die Wärter aufhiel­ten, der Name eines Gefan­genen aus­gerufen wurde, der vielle­icht in die Frei­heit ent­lassen wurde. Viele dieser Namen klan­gen wie mein­er. Nun aber ging mich das nichts mehr an, ich wartete auf nie­man­den, auf nichts.

Nach fünf Wochen wurde Sper­ber am 20. April 1933 freige­lassen. Eine Amnestie zu Ehren von Hitlers Geburt­stag? Diplo­ma­tis­che Bemühun­gen? Klar war nur eines: möglichst rasch raus aus Deutsch­land.

Fort­set­zung am kom­menden Sam­stag, den 3. Mai

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