So wie Manès Sperber in Wien ein begeistertes Mitglied der jüdischen Jugendorganisation Haschomer Hatzair war, wurde er wenig später ein bedingungsloser Anhänger von Alfred Adler und seiner Lehre. In Berlin dann glaubte er im Marxismus und dessen bolschewistischer Ausprägung verbunden mit der Individualpsychologie Adlers sozusagen das “Ei des Kolumbus” für die Lösung aller sozialen Probleme gefunden zu haben und warf sich mit Feuereifer in das neue Tätigkeitsfeld:
Am Anfang nahm die psychotherapeutische Tätigkeit noch einen bedeutenden Platz ein. Immer mehr aber baute Sperber ein Arbeitsfeld auf, das durch die Absicht einer möglichst grossen Breitenwirkung zusammengehalten wurde und immer stärker im Dienste politischer Überzeugungsarbeit stand. (Isler, p. 42)
Er lehrte an mehreren Fachhochschulen, am Sozialpolitischen Seminar der Preussischen Hochschule für Politik, gab Kurse für Heimerzieher, war Gutachter für Jugendkriminalität, hielt Vorträge vor unterschiedlichstem Publikum, nahm an Debatten über psychologische, pädagogische und politische Themen teil und gab Kurse an der marxistischen Arbeiterschule, — kurz: totales Engagement im Dienste einer neuen — diesmal marxistischen — Offenbarung.
In der Manès Sperber Forschung wird die Frage diskutiert, wie lange seine ungebrochene Hingabe an den Kommunismus stalin’scher Prägung anhielt. Die Antworten fallen sehr unterschiedlich aus. Entscheidend ist für den birsfaelder.li-Schreiberling das Verständnis der Motivation Sperbers:
Im chassidischen Judentum war die Hoffnung auf den Messias, der die Erlösung von einer in Angst und Pein versunkenen Welt bringen würde, allgegenwärtig. Auch als der junge Manès den Glauben seiner Väter abschüttelte und zum Atheisten wurde, blieb das tiefe Verlangen nach einer neuen, besseren und gerechteren Welt in ihm mit Sicherheit weiterhin höchst lebendig. Er fand den verheissungsvollen Weg dahin in der marxistischen Heilslehre, die in Russland ihre ersten Früchte trug. Dies umso mehr, als er bei seiner konkreten Arbeit in Berlin mit den dunklen Seiten der kapitalistischen Wirtschaftsordnung konfrontiert war und als Jude wahrscheinlich hellhöriger als andere die Gefahr des erstarkenden Nationalsozialismus wahrnahm.
Wenn man sein ganzes Hoffen auf eine politische Bewegung gesetzt hat, die man als einziges Bollwerk gegen eine drohende faschistische Gesellschaftsordnung zu erkennen glaubt, wird es einiges brauchen, um in diesem Vertrauen — man könnte auch sagen: in dieser Blindheit — die ersten Risse aufbrechen zu lassen. Eindrücklich schildert Sperber in seiner Autobiographie, welche innere Scheuklappen ihn hinderten, die bittere Realität hinter den Wunschvorstellungen wahrzunehmen. Er wusste,
daß in Rußland nicht das Proletariat die Diktatur ausübte, nicht die Sowjets und nicht einmal die KP, sondern eine ganz dünne Führerschicht, die niemandem verantwortlich schien und jeden, der sie offen zu kritisieren wagte, abdrängen, »abhängen« und an jeder offenen Meinungsäußerung verhindern konnte. Wir sprachen darüber im Freundeskreis ganz offen; darüber und über die Idolisierung Stalins, die wir natürlich nicht als eine spontane Bewunderung, sondern als eine von oben energisch geleitete Aktion ansahen; wir spotteten darüber ebenso wie über die byzantinische Geschmacklosigkeit, die zu dem Priesterseminaristen Dschugaschwili paßte.
Wir waren geneigt zu glauben, daß Stalin ein bedenkenlos energischer Organisator war und daß die Sowjetunion während der ersten Jahre des Fünfjahresplans gerade einen Mann wie ihn brauchte. Doch verkannten wir völlig die Logik eines Kampfes um die Macht, wie er von einer skrupellos herrschsüchtigen Clique geführt werden kann, und durchschauten nicht, daß eben die Eigenschaften, die Stalin, wie Lenin in seinem Testament warnend erklärte, unfähig machten, die Funktion eines Generalsekretärs auszuüben, ihn dazu drängten, immer mehr persönliche Macht zu akkumulieren, um schließlich allmächtig zu werden.
Kein Zweifel, wir unterschätzten Stalin und seine taktischen Fähigkeiten, ebenso die Schwäche der Gegner gegenüber seiner eigenartigen, despotischen Schlauheit. Wir begingen diesen Fehler, weil wir es vorzogen, ja weil wir entschlossen waren, an die Partei zu glauben und in ihr allein die Konzentration des besten Willens und die mobilisierende Kraft unbändiger Energien zu suchen. Was könnte ein Mann, selbst wenn ihm skrupellos ergebene Spießgesellen dienten, gegen die Partei ausrichten — gegen eine Partei, die alles ist, alles sein muß?
Der cocu, der seit Jahrtausenden in Spottliedern, Possen und Komödien verhöhnte betrogene Ehemann, ist nicht immer dümmer als andere, seine Sehkraft nicht schwächer als die des Nachbarn. Nein, nicht aus Dummheit verkennt er seine Lage, sondern weil es ihm vor allem darauf ankommt, zu lieben und sich geliebt zu glauben. Er braucht den Glauben an die Treue seines Weibes weit mehr als die Wahrheit über ihre Untreue. So allgemein wie der Tod ist die Selbstverführung durch die Illusion des Glücks, durch die Beharrlichkeit von Hoffnungen, die man, sind sie vernichtet, als Mumien aufputzt, so daß sie fortab gegen den Tod gefeit sind.
In der von einer globalen Wirtschaftskrise täglich aufs neue erschütterten kapitalistischen Welt waren wir Millionen, in Deutschland waren wir Zehntausende von jungen Intellektuellen, die — wie von dem eigenen Sein — davon überzeugt waren, daß nur eine Revolution die Welt von Not, Unterdrückung, Demütigung und Krieg ein für allemal befreien könnte. Und jeder von uns fand dank dieser Überzeugung seinen Platz unter den Menschen, mit denen zusammen er an diesem ungeheuern Wagnis teilnehmen würde — bald, sehr bald, in einem Augenblick, der so unaufhaltsam nahte wie für meinen Urgroßvater der Messias. Die Skeptischsten unter uns fanden hier eine Gewißheit — die einzige, der keine Erschütterung zu drohen schien. Im Lichte dessen, was sein, also kommen mußte, stellte die Geschichte der Menschheit ein wildes, sinnloses, mörderisches Auf und Ab von sound und fury dar; im Lichte dessen also, was unbedingt geschehen mußte, aber nicht geschehen würde, wenn wir, gerade wir es nicht herbeiführten, betrachteten wir alles.
Fortsetzung am kommenden Samstag, den 19. April
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