Das erste, was wir in Berlin erlebten, waren hundertundein Kanonenschüsse. Wir erschraken darüber ein wenig, erfuhren dann aber zu unserer Beruhigung und ein wenig zu unserem Staunen, daß sie bloß der Geburt einer Prinzessin galten. (Wäre es ein Prinz gewesen, so hätte er hunderteinundzwanzig bekommen.) (…) Ein anderer Eindruck aus der ersten Berliner Zeit ist auch in meinem Gedächtnis haften geblieben: wie ich unter den Linden einen Soldaten zu meinem Schrecken und Staunen zusammenfahren und erstarren sah, weil von weitem ein Offizier vorüberging.
Damit war Leonhard Ragaz mittendrin in der damaligen preussisch-grossdeutschen Atmosphäre. Wilhelm II. hatte soeben nach dem frühen Tod seines Vaters , Friedrich III., 29-jährig den Kaiserthron bestiegen. Ragaz bewies schon damals sein feines Gespür für Menschen und politische Entwicklungen:
Ich habe ihn hin und wieder gesehen, sei’s in der Equipage vorbeifahrend, sei’s an der Spitze einer militärischen Formation reitend. Er hat mir, trotzdem ich dazu sehr bereit gewesen wäre, nie irgendwelche Sympathie abgewinnen können. Seine ganze Haltung, die auf das Imponieren eingestellt war, das nichtssagende, mich nachträglich ein wenig an Hitler erinnernde Gesicht, der hohle Blick seiner Augen stießen mich ab. Ich versagte ihm trotzig, mir von ihm imponieren zu lassen. Noch heute bin ich stolz darauf, daß ich als blutjunger Mensch ein so richtiges Empfinden für das Wesen dieses Mannes gehabt habe.
Eine Predigt in der Garnisonkirche führte ihm die damalige Verbindung von “Thron und Altar” anschaulich vor Augen:
Nicht nur waren die Kirchenplätze um Geld vermietet, so daß wir stehen mußten, sondern auch der Gottesdienst trug einen höfischen Charakter. Denn mitten im Beginn der Predigt erstarrte der Prediger wie jener Soldat und blickte nachher nicht mehr auf die Gemeinde, sondern bloß auf eine Loge, worin — der Kaiser saß.
Ansonsten spielte auch in Berlin weder Studium noch Theologie eine grosse Rolle, obwohl an der Universität so berühmte Gelehrte wie Adolf von Harnack, Heinrich von Treitschke, Hermann Grimm oder Wilhelm Dilthey lehrten.
Es war wieder meine Unreife, die mich verhinderte, den Wert der gebotenen Gelegenheit zu erkennen und die mich zur Beute von allerlei nebensächlichen Eindrücken machte.
Theater und Malerei hingegen genossen Priorität:
Ich weilte viel in den reichen Gemäldegalerien von Berlin. Auch ging ich dem Problem der Kunst theoretisch nach. Statt der «Glaubenslehre» oder «Dialektik» von Schleiermacher oder der «Summa» eines großen Scholastikers oder Calvins «Institutio» studierte ich die sechsbändige «Ästhetik» von Friedrich Theodor Fischer (…)
Am frühesten verstand ich die niederländische Malerei, aber andere Meister fast mehr als Rembrandt. (Rubens habe ich bis auf diesen Tag abgelehnt.) Ähnlich verhielt es sich lange mit der Plastik. Aber mein Bemühen ließ nicht nach. Ich reiste (vierter Klasse) in den Pfingstferien, statt wie die andern ans Meer, nach Dresden, ging Tag für Tag in die Galerie, saß stundenlang vor der sixtinischen Madonna. Von Dresden selbst und seiner Umgebung empfing ich unvergeßliche Eindrücke, und eine Aufführung der «Walküre» von Richard Wagner habe ich auch noch frisch in Erinnerung; aber der Malerei und Plastik bin ich nicht näher gekommen.
Geblieben ist aber seine Liebe zu Michelangelo und Dante. Und sein Durst nach Schönheit:
Das Häßliche ist mir in jeder Form, besonders aber als Teil unserer Zivilisation, eine Qual. Die Schönheit gehört für mich zu Gottes Schöpfung. Auch das theoretische Problem der Kunst gibt mir, ähnlich wie das der Erkenntnistheorie, immer aufs Neue zu denken. In meinen Träumen aber sehe ich immer wieder Bilder, besonders von Landschaften, aber neuerdings auch andere, von einer Schönheit und Großartigkeit, die alles überbietet, was ich je mit den äußeren Augen gesehen.
Dass das Studium für Ragaz damals nicht im Vordergrund stand, sah er auch als sinnvolle Fügung:
Ich wäre sonst viel mehr ein Gelehrter und Büchermensch geworden, als das gottlob der Fall gewesen ist. (…) Ich habe Gott nie bloss in der Theologie gesucht, sondern auch in der Welt. (Hervorhebungen im Text). Mir ist schliesslich das Studium der Welt zum Studium der Theologie geworden. Das reut mich nicht. Denn wie ich schon anderwärts erklärt habe: der lebendige Gott des Reiches, der der Gott auch der Bibel ist, ist nicht ein Religionsgott, Kirchengott, Theologiegott, sondern ein Weltgott, ein Gott, der, gerade weil er wirklich Gott ist, in die Welt eingehen, “Fleisch werden” will. Ihn habe ich unbewusst, aber mit Leidenschaft, auf meinen Wegen durch die Kunst wie durch die weltliche Wissenschaft und die Welt selbst gesucht und gefunden.
Nach dem Berliner Semester ging es den Rhein hinauf zurück in die Heimat. Eigentlich hätte Ragaz sein Studium nach sechs Semestern abschliessen können, doch zog es ihn für ein letztes Semester noch einmal nach Basel.
Dazu mehr am kommenden Samstag, den 3. Dezember
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