Leon­hard Ragaz fand in Basel Unterkun­ft im Alum­neum, der altehrwürdi­gen Wohn­stätte für Theologiestudenten.
Auf dem prim­i­tiv­en Pult des engen Studier­stübchens im Alum­neum in Basel, das ich noch mit einem andern, älteren Stu­den­ten teilte, lag ein alter Foliant, die «Eth­i­ca, ordine geo­met­ri­co demon­stra­ta» (Ethik auf geometrische Weise dargestellt) von Benedikt Spin­oza. Mit ihr begann ich mein the­ol­o­gis­ches Studi­um! Es war freilich nicht ein strenges Studi­um im Sinne der Fach­philoso­phie, son­dern mehr eine Berauschung; aber es war sozusagen die erste Stufe meines Höhen- und Tiefen­weges zu Gott!

Ragaz blieb allerd­ings nicht im Pan­the­is­mus stehen:
Nach jen­em Durch­gang durch den Pan­the­is­mus bin ich für immer von ihm befre­it gewe­sen. Er hat mich nie mehr ern­stlich ver­sucht. Geblieben ist mir bloß ein Ver­ständ­nis für das Teil­recht, das in ihm ist. Oder lebt er, aber als Recht, fort in meinem Ver­ständ­nis für das Wort Got­tfried Kellers: «Gott strahlt von Weltlichkeit» oder in dem fun­da­men­tal­en Bestandteil meines Glaubens an Gott und sein Reich, daß Gott und Welt aufs eng­ste zusam­menge­hören, daß Gott in die Welt will und daß man ihm in der Welt dienen soll, oder gar im Zen­trum meines Denkens, in der Bedeu­tung, welche für dieses das Wort hat: «Und der Logos («das Wort») ward Fleisch»? Vielle­icht, aber dieser Gott, der in die Welt will, ist der lebendi­ge und «per­sön­liche» Gott der Bibel, der ger­ade darum die Welt rev­o­lu­tion­iert, weil er anders ist als die Welt.

Das Alum­neum kon­nte den an Frei­heit gewöh­n­ten Natur­burschen nicht begeis­tern. Zuviel geistlich-the­ol­o­gis­che Atmo­sphäre. Zuviel Kon­trolle. Schon nach einem Semes­ter zog er in eine “kleine Bude”, in “die Frei­heit ein­er dürftigeren aber unab­hängi­gen Exis­tenz.”

Aber diese unab­hängige Exis­tenz wurde immer wieder durch Gefüh­le der Schw­er­mut belastet. Über­haupt zieht Ragaz von seinem ersten Basler Aufen­thalt kri­tis­che Bilanz:
Im übri­gen umhüllte mich immer­fort das Ele­ment des Traumes. Zu einem hellen Ver­standes­be­wußt­sein war meine Seele noch nicht erwacht.
Ich muß über­haupt fest­stellen, daß ich für das Uni­ver­sitätsstudi­um eben­so unreif war wie für das Gym­nasial­studi­um. Ich war in bei­des viel zu früh hineingestoßen wor­den. Die Reife meines ganzen Wesens, die über­haupt ganz außeror­dentlich spät einge­treten ist, eigentlich erst im Spätherb­st meines Lebens, war hin­ter der Lern­fähigkeit des Kopfes weit zurückgeblieben.

Zusam­men mit Stu­di­enkol­le­gen ging es anschliessend nach Jena, damals die stu­den­tis­che Hochburg in Deutsch­land, wo er das stu­den­tis­che Leben in vollen Zügen genoss:
In Jena war das Stu­den­ten­leben die Haupt­sache und das Studi­um sehr Neben­sache. Dieses kam erst an die Rei­he, wenn das Exa­m­en bevor­stand. Die Kol­legien wur­den großen­teils geschwänzt .… Bei Pro­fes­sor Lip­sius, ein­er der ersten Größen der Uni­ver­sität, besucht­en das Kol­leg über Dog­matik von über sechzig Eingeschriebe­nen regelmäßig nur wir fün­fzehn Schweiz­er. Ein Korps­bursche hätte zum min­desten in den ersten Semes­tern ja auch gar keine Zeit für das Studi­um gehabt: seine Fuch­senpflicht­en, Kneipe, Men­sur usw. — nah­men ihn Tag und Nacht in Anspruch. Wozu übri­gens sich mit Studieren pla­gen? Bei dem beherrschen­den Ein­fluß beson­ders des Korpsstu­den­ten­tums auf das zivile Leben war ja die Kar­riere auch ohne das, sog­ar ohne das noch etwas sicher­er, zum voraus ver­bürgt.

So kann es nicht ver­wun­dern, dass der junge Ragaz “alldeutsch” gesin­nt war. Beim Abschied von Jena hielt er eine Fes­trede, in der er die Deutschen auf­forderte, sich gegen ihre dro­hen­den Feinde zu waffnen und zu rüsten.
Der Ein­druck dieser Rede war über­wälti­gend. Man jubelte, umarmte, küßte mich, und ich war ein großer Mann.

Und die The­olo­gie? — Die hat­te im Win­terse­mes­ter dann doch noch ein Plätzchen. Die Namen sein­er The­olo­giepro­fes­soren sind inzwis­chen in Staub und Asche ver­sunken. Aber er nahm dur­chaus wertvolle Impulse für sein geistiges Leben mit, zum Beispiel bei Richard Adel­bert Lip­sius:
Was ich aber Lip­sius auch danke, ist der starke Impuls, die the­ol­o­gis­chen mit den philosophis­chen Prob­le­men zu verbinden und beson­ders den Fra­gen der Erken­nt­nis­the­o­rie nachzuge­hen. Das ist mein Leben lang, bis auf diesen Tag, ein zen­trales Anliegen mein­er geisti­gen Arbeit geblieben. Inhaltlich aber ver­dank­te ich sein­er Auseinan­der­set­zung mit Häck­el** eine frühe Erken­nt­nis des Unter­schiedes zwis­chen natur­wis­senschaftlich­er und geis­teswis­senschaftlich­er, spezieller aus­ge­drückt, zwis­chen der auf das Mit­tel (die «Ursache») acht­en­den kausalen und der auf den Zweck und Sinn gehen­den tele­ol­o­gis­chen Denkweise.

Zum Schlüsse kam dann noch ein großes aber heil­sames Ärg­er­nis: Lip­sius bekan­nte sich zum Glauben an die Aufer­ste­hung Christi. Das war zu viel — das schlug dem Faß den Boden aus! Aber es drück­te auch einen Stachel in meine Seele, der mich nicht mehr in Ruhe ließ und mithalf, mich aus dem Bann des Lib­er­al­is­mus zu lösen. So war in Jena doch auch religiös etwas gewon­nen, war ich einen Schritt weit­er gekommen.

Und nun ging’s nach Berlin.

Seinen Berlin­er Erfahrun­gen fol­gen wir am kom­menden Sam­stag, den 26. November.

** Ernst Häck­el war der bedeu­tend­ste und berühmteste Vertreter und Ver­fechter der Darwin’schen Evo­lu­tion­s­the­o­rie und lehrte eben­falls an der Uni­ver­sität Jena. Thomas Alva Edi­son schrieb über ihn: „Haeck­el ist der größte unter den leben­den Men­schen. Ich glaube abso­lut an seine The­o­rie.“ Sein Hauptwerk “Natür­liche Schöp­fungs­geschichte” war ein Best­seller und wurde auch poli­tisch wegen dessen eugenis­chen und rassen­hy­gien­is­chen Aspek­ten vor allem von recht­en Kreisen vereinnahmt.

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