In sein­er 1910 erschiene­nen Schrift “Der Kampf um Jesus Chris­tus”, deren Aus­lös­er die the­ol­o­gis­che Schule war, welche die his­torische Exis­tenz Jesu verneinte und in sein­er Gestalt lediglich einen Mythos erblick­te, stellte Ragaz prophetisch fest:
Ich meine, die Erken­nt­nis Jesu (und damit auch des Reich­es Gottes) ist noch nicht abgeschlossen, vielmehr wis­sen ger­ade die jet­zi­gen Stürme in uns die Ahnung erweck­en, dass wir in eine neue Phase des Ver­ständ­niss­es Jesu einge­treten sind, dass wir eine Stufe höher hin­auf müssen zu ihm, dass auch von diesem Gesicht­spunkt aus betra­chtet eine Aufer­ste­hung Jesu sich vol­lzieht.

Er schrieb dies zu ein­er Zeit, als die Ent­deck­un­gen von Nag Ham­ma­di noch in der Zukun­ft lagen. Schw­er zu sagen, wie Ragaz mit der Erken­nt­nis umge­gan­gen wäre, dass die ersten Jahrhun­derte nach dem Kreuzi­gungstod Jeshua ben Josephs ein weitaus kom­plex­eres und far­bigeres Bild der Entste­hung des Chris­ten­tums zeigen, als die akademis­chen Erforsch­er des Neuen Tes­ta­ments zu sein­er Zeit zu wis­sen glaubten. Zwar waren bes­timmte kop­tis­che Codices schon im 19. Jahrhun­dert bekan­nt und unter­sucht, aber sie wur­den unter dem Label “gnos­tizis­tisch” als irrel­e­vant für den “wahren christlichen Glauben” bei­seite geschoben. Nag Ham­ma­di verän­derte die Forschungslage auf einen Schlag fun­da­men­tal. Neue Evan­gelien — das Thomas-Evan­geli­um, das Philip­pus-Evan­geli­um, das Evan­geli­um der Maria Mag­dale­na — wur­den gefun­den, von deren Exis­tenz man zwar wusste, die man aber als längst ver­schollen betra­chtete.

Die erste Reak­tion der meis­ten christlichen The­olo­gen auf diese umwälzende Ent­deck­ung war erneut, sie als spät ent­standene Pro­duk­te gnos­tis­ch­er Fan­tasien abzuqual­i­fizieren, — bis akribis­che Forsch­er sich zur Erken­nt­nis durchrangen, dass z.B. das Thomas-Evan­geli­um mit seinen 114 Logien (Sinnsprüche Jesu) den kanon­is­chen vier Evan­gelien mit grösster Wahrschein­lichkeit voraus­ging. Und dieses Evan­geli­um zeigte ein neues Bild Jesu als Weisheit­slehrer, das mit den später ent­stande­nen christlichen Dog­men schw­er in Ein­klang zu brin­gen ist.

Wir befind­en uns heute, wie von Ragaz geah­nt, tat­säch­lich in ein­er neuen Phase des Ver­ständ­niss­es Jesu, seines Lebens, sein­er Lehre, seines Todes. Da aber der birsfaelder.li-Schreiberling als Laie weit davon ent­fer­nt ist, the­ol­o­gisch kom­pe­tent mit­disku­tieren zu kön­nen, wird er in dieser Serie auf eine ganze Rei­he von Autorin­nen und Autoren zurück­greifen, die es als ihre Auf­gabe betra­chteten, uns Laien jen­seits hochkom­plex­er Fachdiskus­sio­nen — und die gibt es zuhauf — die wichtig­sten Erken­nt­nisse und Fra­gen vorzustellen, die sich aus den Ent­deck­un­gen von Nag Ham­ma­di ergeben haben. Zen­tral geht es dabei um das Span­nungs­feld “Gno­sis und Kirchenchris­ten­tum”. (Auf die Begriffe “Gno­sis”, “gnos­tisch”, “Gnos­tizis­mus” und “gnos­tizis­tisch” wird später noch detail­liert einge­gan­gen. Hier nur eine erste Def­i­n­i­tion: Das griech. Wort „Gno­sis“ bedeutet Wis­sen und Erken­nt­nis all­ge­mein­er Art, später auch ein Geheimwis­sen)

Die wichtig­sten Forscher:innen und Autor:innen, deren Erken­nt­nisse hier zur Sprache kom­men wer­den, sind
 Elaine PagelsPagels ist Har­ring­ton Spear Paine Pro­fes­sor of Reli­gion an der Prince­ton Uni­ver­si­ty und wurde durch mehrere Büch­er über die apokryphen Schriften des Neuen Tes­ta­ments bekan­nt. Sie studierte an der Stan­ford Uni­ver­si­ty (B.A. 1964, M.A. 1965) und wurde an der Har­vard Uni­ver­si­ty pro­moviert. Sie gehörte dort zu dem Team, das die Nag-Ham­ma­di-Schriften unter­suchte. (Wikipedia)
Sie wurde ab den 70er Jahren einem bre­it­eren Pub­likum u.a. mit ihren Büch­ern “Der gnos­tis­che Paulus”, “Ver­suchung durch Erken­nt­nis. Die gnos­tis­chen Evan­gelien”, “Adam, Eva und die Schlange. Die The­olo­gie der SündeoderDas Geheim­nis des fün­ften (Thomas) Evan­geli­ums. Warum die Bibel nur die halbe Wahrheit sagt” bekan­nt.

Karen KingVon 1984 bis 1997 lehrte King in der Abteilung für Reli­gion­swis­senschaften am Occi­den­tal Col­lege in Los Ange­les. Im Jahr 1997 wurde sie zur Pro­fes­sorin für Neues Tes­ta­ment und Geschichte des antiken Chris­ten­tums an der Har­vard Divin­i­ty School ernan­nt. (Wikipedia)
King wurde v.a. mit ihrem Buch “Das Evan­geli­um der Maria von Mag­dala: Jesus und die erste weib­liche Apos­telin” inten­sive Diskus­sio­nen aus, weil es ein völ­lig anderes Bild als das von der Kirche propagierte Bild der “reuigen Sün­derin” pos­tulierte. In der aus­führlichen Studie “Was ist Gnos­tizis­mus?” zeigte sie den lan­gen Weg auf, den die Forschung zur Ehren­ret­tung “gnos­tis­chen Denkens” gegan­gen ist.

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Bart Ehrman
. Bart D. Ehrman erhielt eine evan­ge­likale Erziehung und war Mit­glied in der Episkopalkirche. Mit 15 Jahren hat­te er eine Wiederge­burt­ser­fahrung und besuchte von 1973 bis 1976 das Moody Bible Insti­tute. Um sich noch inten­siv­er mit dem Glauben auseinan­der­set­zen zu kön­nen, studierte er die alten Sprachen der Bibel. Er erwarb den Mas­ter und den Dok­tor am Prince­ton The­o­log­i­cal Sem­i­nary. Er ist heute Pro­fes­sor an der Uni­ver­si­ty of North Car­oli­na at Chapel Hill. (Wikipedia)
Ehrman ist ein her­aus­ra­gen­der Vertreter der sog. Tex­tkri­tik des Neuen Tes­ta­ments. Auch set­zt er sich inten­siv mit der Vielfalt der ausserkanon­is­chen “apokryphen” Schriften auseinan­der, die in den ersten Jahrhun­derten in den christlichen Gemein­den zirkulierten. Seine Büch­er fan­den grossen Wider­hall, wur­den aber auch von vie­len The­olo­gen scharf ange­grif­f­en. Dazu gehören u.a. “Ver­lorene Chris­ten­tümer”, “Him­mel und Hölle: Eine Geschichte des Lebens nach dem Tod”, “Existierte Jesus?: Das his­torische Argu­ment für Jesus von Nazareth”, “Jesus falsch zitieren: Die Geschichte, wer die Bibel verän­dert hat und warum” oder Jesus vor den Evan­gelien: Wie die früh­esten Chris­ten ihre Geschicht­en über den Erlös­er erin­nerten, verän­derten und erfan­den”.

Es ist selb­stver­ständlich unmöglich, detail­liert auf die Forschun­gen der erwäh­n­ten Autorin­nen und Autoren einzuge­hen. Der birsfälder.li-Schreiberling wird ein­fach höchst punk­tuell einige wenige Aspek­te vorstellen, die sich aus sein­er Sicht als Ein­stieg in die The­matik beson­ders eignen.

In einem späteren Schritt sollen dann eine ganze Rei­he aktueller The­ologin­nen und The­olo­gen vorgestellt wer­den, die — ganz im Sinne von Leon­hard Ragaz — daran waren und sind, auf­grund der neuen Erken­nt­nisse aus Nag Ham­ma­di zur Entste­hung des Chris­ten­tums neue Wege zu einem ver­tiefteren Ver­ständ­nis jen­er Gestalt aufzuzeigen, welche die let­zten 2000 Jahre des Abend­lands wie keine zweite geprägt hat.

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