Der Glaube an Jesus … erscheint ganz besonders als Verkörperung alles Kultus der Vergangenheit. Jesus scheint dazustehen als die Mauer, die alle geistige Vorwärtsbewegung hindern will, schrieb Ragaz, und folgerte aus der damaligen Diskussion um den Jesus-Mythos:
Wenn sich das alles so verhält, was lehrt uns dann der heutige Jesusstreit? Er lehrt uns offenbar, dass wir daran arbeiten müssen, diese Belastung unseres religiösen Wesens zu beseitigen.
Und dann die erstaunliche Aussage: Er selbst wird sie beseitigen. Das Ergebnis wird wieder sein eine Auferstehung Jesu.
Eine Auferstehung aus dem Grab des Christentums!? Aus Kirchensicht höchst ketzerisch, — aber genau das meinte Ragaz, wenn er schrieb:
Denn das ist uns doch klar, dass der wirkliche Jesus, das wirkliche Evangelium vom Gottesreiche zwar wohl auch eine Forderung bedeuten, aber keine Belastung des Wahrheitssinnes, keine Unfreiheit, sondern dass sie vielmehr der Ruf zur vollkommenen Freiheit sind, der höchste, den die Menschheit vernommen hat und vernehmen kann. Hier ist nichts von Dogma und Kirchentum, nichts von Muss- und Zwangsreligion, nichts von Aufdrängen, Anpredigen, Anlehren, sondern das sonnige Aufleuchten der Gabe Gottes, Gottes selbst, für die Menschenherzen.
Aus dieser Sicht wäre die allgemeine Kirchenkrise eine durchaus notwendige Entwicklung, um Platz zu machen für ein neues Verständnis des wohl grössten Revolutionärs, der auf diesem Planeten wandelte. Und dieses neue Verständnis bedeutete für Ragaz auch, dessen Verkündigung des “Reiches Gottes” endlich ernst zu nehmen:
… es ist uns ja auch klar, dass das Reich Gottes, das Jesus verkündigt und das in ihm da ist, nicht einen Kultus der Vergangenheit bedeutet, sondern den Dienst des lebendigen Gottes, der heute so gut schafft wie vor zweitausend Jahren und dass dieses Reich zwar seinen Zusammenhang mit der Vergangenheit mit starken Klammern festhält, aber doch von diesem Blick nach rückwärts bloss Kraft holt, vorwärts zu schauen und zu schaffen dem grossen Ziel entgegen: dass Gottes Wille geschehe auf Erden wie im Himmel und Er alles in allem sei. Dass diese Wahrheit erwache, noch völliger erwache als bis anhin, und die christliche, ja auch die übrige Welt erhelle mit dem Glanz der Freiheit und des Lebens …
Die Crux bei dieser Feststellung von Ragaz liegt natürlich in der Frage nach dem Gottesbild. Wollen wir wirklich, dass Gottes Wille geschehe auf Erden wie im Himmel!? Und wenn wir uns von dem bärtigen Vater auf dem Himmelsthron verabschiedet haben, was könnte dann die Chiffre “Gott” für uns neu bedeuten?
Je nach unserer Antwort verändert sich auch unser Bild von Jesus, — und parallel dazu von Christus.
Ein Beispiel: Der 1986 verstorbene bulgarisch-französische spirituelle Lehrer Omraam Mikhaël Aivanhov, Gründer der Universellen Weissen Bruderschaft, lehrte:
Es hat nur ein Jesus gelebt, indessen gibt es und kann es Tausende von Christus erleuchtete Menschen geben. Jesus ist einmalig und steht der christlichen Religion vor, wie Buddha der buddhistischen oder Mohammed der mohammedanischen. Christus jedoch ist das Oberhaupt der gesamten Menschheit und des Universums: Er ist nicht das Haupt einer einzelnen Religion, sondern aller Religionen zusammen, die er inspiriert hat. Deshalb sollen die Menschen mit dem Rassenhass und dem Sektenwesen Schluss machen.
Selbst das Christentum ist noch eine Sekte!
Im alten Testament war Gott nur der Gott der Israeliten, nur sie durften leben und hatten das Recht, die anderen Völker zu beherrschen und zu vernichten. Später nahmen sich die Christen mit dem neuen Testament das gleiche Recht, indem sie sich für auserwählt, von dem Herrn geliebt und bevorzugt fühlten und alle anderen für Ungläubige hielten. Das ist ihr grösster Irrtum. Genau wie die Sonne alle bescheint, so ist auch der Herr für alle seine Kinder da, denn sonst müsste man daraus schliessen, dass die Sonne mit ihrer Liebe und Grosszügigkeit den Herrn übertrifft.
Forderte Ragaz ganz in diesem Sinne: Wir wollen aus frischen Quellen trinken?
Wir wollen aus frischen Quellen trinken, wenn unsere Seele nach Gott dürstet, dem lebendigen Gott. Wir bedürfen des Gottes, des Gottes, der heute schafft und heute spricht. Und so bedürfen wir auch eines lebendigen Christus, eines Christus, der auf den heutigen Wegen mit uns geht, der mit uns durch die heutige Welt wandert, der uns Licht ist für die heutigen Dunkelheiten; wir bedürfen eines Christus, der uns aus der Zukunft entgegenkommt als Verkörperung aller grossen Gedanken Gottes und aller Verheissung des Menschentums.
Wir folgen den Gedankengängen von Leonhard Ragaz weiter am kommenden Samstag, den 24. Juni.
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