Die dreiteilige Serie “Der Kampf um Jesus Christus”, in der sich Leonhard Ragaz 1910 in den “Neue Wege” mit den Thesen Arthur Drews’ auseinandersetzte, ist ein eindrückliches Dokument. Ein Dokument, das heute noch genau so aktuell ist, wie es vor über 110 Jahren war. Weshalb? — Weil Ragaz darin grundlegende Überlegungen und Beobachtungen zum Christentum als Religion macht.
Die Serie beginnt mit der Frage:
Der Kampf um Jesus, der durch unsere Zeit geht, konzentriert sich gegenwärtig auf die durch Drews vollends akut gewordene Frage: hat Jesus gelebt? … Es ist wohl der Mühe wert, dass wir diese Bewegung (Jesus als Mythos), die momentan vor allem durch Drews Namen markiert ist, zum Ausgangspunkt reiflichen Nachdenkens machen. Sie bedeutet eine Krise für das Christentum …
Die spannende Frage ist, was Ragaz unter dieser Krise versteht. Zwar weist er darauf hin, dass für viele seiner christlichen Zeitgenossen die Verneinung der geschichtlichen Existenz Jesu schockierend war und ihr Weltbild massiv erschütterte. Doch, so fügt er hinzu, würde ein unumstösslicher wissenschaftlicher Beweis für dessen Existenz alles wieder ins Lot bringen? Krise ausgestanden?
Ragaz gräbt tiefer: Woher kommt es, dass grosse Massen sogenannter Christen vor der Behauptung, Jesus habe nicht gelebt, sofort umfallen?
Man könnte sich die Antwort leicht machen und sagen, das erkläre sich aus dem kindischen Autoritätsglauben, den unser Geschlecht, das in religiösen Dingen so kritiksüchtige, allen Behauptungen wirklicher oder scheinbarer Wissenschaft entgegenbringe. Sicher spielt auch dieser Faktor mit. Aber eine gründliche Erklärung ist dies noch nicht. Sie setzt doch voraus, dass die Überzeugung von Jesu Realität sehr schwach gewesen sei. Und damit stossen wir, wie mir scheint, auf den wahren Grund.
Die letzte Ursache dieser schmerzlichen Erscheinung ist die Tatsache, dass Jesus der Mehrzahl der Christen wenig bedeutet … Die Behauptung, dass Jesus nicht gelebt habe, ist ein Beweis dafür, dass Jesus in der Christenheit nicht lebt.
Kleiner Sprung in die Gegenwart: Wer heute im grossen christlichen Spektrum nach Gruppen sucht, die Jesus ins Zentrum ihrer Verkündigung stellen, wird rasch fündig: Es sind die Evangelikalen. Würde Ragaz, wenn er heute lebte, in ihnen das Vorbild für einen lebendigen Glauben sehen? Die Evangelikalen, die Politikern wie Donald Trump oder Jair Bolsonaro zur Macht verholfen haben und zurzeit in den USA unverhüllt die politische Dominanz anstreben?
Die Antwort findet sich in seinen folgenden Ausführungen:
Die Christenheit hat nicht an Jesus von Nazareth, sondern an den Christus geglaubt, d.h. an die in Jesus, dem Christus, verkörperte Idee des Gottmenschen. Sie hat dabei aber weniger an das gottmenschliche Leben gedacht, das uns in der ganzen Erscheinung Jesu entgegentritt, als an das Dogma vom Gottmenschen, wie es die Kirche formuliert hatte und die Orthodoxie als Gesetz behauptete.
Die konkrete Gestalt Jesu, seine Persönlichkeit, sein Lehren und Helfen, sein Leiden, besonders am Kreuz, stand dabei freilich im Hintergrund und gab dem Dogma vom Gottmenschen Kraft, Leben und Farbe, auch gewann Jesus in seiner irdischen Gestalt immer wieder Gewalt über verwandte Seelen, wie etwa Bernhard von Clairvaux, Franziskus von Assisi, oder ganze religiöse Bewegungen, wie die Waldenser oder Täufer, aber im Grossen und Ganzen trat doch der geschichtliche Jesus hinter dem dogmatischen Christus zurück. Auch der Reformation und den aus ihr entstandenen Gemeinschaften kam es mehr darauf an, ihren Anhängern die Zentrallehre vom Heil “aus dem Glauben allein” einzuprägen, als ihnen das Bild des Lebens und der Persönlichkeit Jesu vor die Augen zu malen. Noch heute hält es ein grosser Teil der Christenheit nicht anders. (…) Sie kennen nur einen Jesus, der ein personifiziertes Dogma ist und auch den nur unbestimmt; Jesus ist ihnen ein Schema, nicht eine konkrete Erscheinung … (er) ist bis jetzt für die Menschen zu sehr auf den Wolken des Himmels geblieben — was Wunder, wenn er ihnen in den Wolken zu entschwinden droht?
Auch Evangelikale beten mehrheitlich zu diesem “personifizierten Dogma”. Darum muss die Bibel bei ihnen wörtlich genommen werden, sonst droht “die Hölle”.
Dann wendet sich Ragaz der Frage zu, warum das Proletariat sein Heil nicht bei Jesus, sondern bei Karl Marx gesucht hat:
Es ist der Jesus der Kirchen, der volksfremden, ja volksfeindlichen, dessen Leugnung der sozialistische Arbeiter mit Freude begrüsst — also der Jesus, der wirklich nicht existiert hat. Wenn aber Jesus, der wirkliche Jesus, unter uns erschiene, in Gestalt von Menschen, die ihm glichen, als Richter des Unrechts und Helfer der Bedrängten, als Gegner der offiziellen Gesellschaft, auch der christlichen, als Freund aller in materieller und seelischer Not Verzagenden, in Gott- und Menschenverlassenheit Verschmachtenden, von Kirche und Christentum Ungetrösteten, ja Geächteten — was könnten dann einige Stimmen aus der Studierstube gegen ihn? Diese mächtige und wunderbare Realität bewiese sich selbst so deutlich, wie die Sonne sich beweist — dadurch, dass sie leuchtet.
Die Tatsache der Leugnung der Existenz Jesu und der Anklang, den sie findet, ist ein Vorwurf gegen die Christenheit; dass Jesus gelebt hat, kann mit solchem Erfolg nur geleugnet werden, weil er unter uns nicht lebt.
Doch Leonhard Ragaz geht mit seiner schneidenden Analyse noch tiefer. Dazu mehr in der nächsten Folge
am kommenden Samstag, den 3. Juni
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