Der Aufen­thalt von Leon­hard Ragaz in Basel war für sein Leben nicht nur wegen sein­er “Reich Gottes”-Erfahrung von Bedeu­tung. 1906 grün­dete er mit Mit­stre­it­ern die Zeitschrift “Neue Wege”. Ein­er dieser Mit­stre­it­er, Pfar­rer Hart­mann in Chur, umriss in der ersten Num­mer in “Was wir wollen” den anvisierten Adres­satenkreis:
Wir sehen die Leute, die nicht nach religiös­er Erbau­ung im alten Sinn suchen. Sie ver­lan­gen nach Aufk­lärung, nach ein­er offe­nen, durch keine Rück­sicht gehemmten Aussprache über die Dinge, die ihnen Gegen­stand von Zweifeln und Bedenken sind. Sie tra­gen das starke Bedürf­nis in sich, zu einem eige­nen Urteil zu kom­men und ohne Bevor­mundung Stel­lung zu nehmen zu den religiösen und sit­tlichen Fra­gen der Zeit. Daher treten sie mit Mis­strauen an alles her­an, was durch kirch­liche und kirchen­poli­tis­che Tra­di­tion gebun­den ist. Ihre Zahl ist im Wach­sen ausser­halb aber auch inner­halb der beste­hen­den religiösen und kirch­lichen Gemein­schaften. An sie möchte unser Blatt sich wen­den.

Die “Neuen Wege” wur­den — ins­beson­dere, als Leon­hard Ragaz zum alleini­gen Redak­tor avancierte — das zen­trale Kamp­for­gan für die Bewe­gung des Religiösen Sozial­is­mus, und sie führt ihren Kampf bis heute fort. Sämtliche Aus­gaben der Zeitschrift sind auf E‑Periodica der ETH Zürich dig­i­tal zugänglich.
Die “Neuen Wege” sind ein wichtiger Teil meines Schick­sals gewor­den und es geblieben bis auf diesen Tag. Sie haben mir viel Müh­sal gebracht, viel grossen und kleinen Kampf und Schmerz, aber auch viel Freude und Sieg, urteilte er in “Mein Weg”.

Schritt um Schritt schlug der Bünd­ner in der Rhe­in­stadt langsam Wurzeln. Inter­es­sant, wie er die Basler Men­tal­ität charak­ter­isierte:
Man muß in Basel sozusagen eine Quar­an­täne durch­machen, muß einen Stachel­wall von Unfre­undlichkeit, abweisen­dem Hochmut, ängstlichem oder über­he­blichem Miß­trauen durch­machen. Der «Spi­on» über den Haustüren, das heißt ein ovaler Spiegel, der das Bild des vor der Türe Ste­hen­den weit­ergibt, muß zuerst ansagen, wer unten ste­he, bevor man die Türe öffnet, und ist für die Basler Art charak­ter­is­tisch. Aber wenn die Quar­an­täne vorüber und der Stachel­wall durch­brochen ist, dann ist man in Basel auch daheim. Dann wird man sozusagen in die Fam­i­lie aufgenom­men, als Eigen­er behan­delt und mit großer Treue fest­ge­hal­ten. Dann offen­bart die Basler Art ihre Schätze. Unter der stach­li­gen Schale ver­birgt diese baslerische Art ja einen kost­baren Kern von Ernst, Tiefe, Geschei­theit, Kul­tur und neben der kon­ser­v­a­tiv­en Befan­gen­heit die Fähigkeit zu ein­er großen geisti­gen Frei­heit.

Mit der Basler Fas­nacht hinge­gen kon­nte er sich nicht befre­un­den, ins­beson­dere, als er ein­mal wegen sein­er Absti­nenz-Hal­tung zur Zielscheibe des Spottes wurde:
Das bedeutete in den Augen der Basler nicht viel; ich aber mit meinem bünd­ner­isch empfind­lichen Ehrge­fühl litt schw­er und lange darunter. Auch eine gewisse Abnei­gung gegen alles, was “Masse” heisst, hat daraus einen Teil ihrer Kraft bezo­gen. Dieses ganze Basler Fas­nachtswe­sen, in dessen Fröh­lichkeit und Witz sich auch viel sich aus­to­bende alko­holis­che und sex­uelle Auss­chwei­fung mis­cht­en, bildete dauernd einen Graben zwis­chen mein­er Gefühlsweise und der Basler Art.

Ein­er Beru­fung als Pro­fes­sor Dog­matik und Ethik an der Uni­ver­sität Bern fol­gte er neben parteipoli­tis­chen Über­legun­gen auch deshalb nicht, weil aus der Gemeinde von allen Seit­en her ein Sturm erfol­gt war, der den Zweck hat­te, mich zurück­zuhal­ten. Auch seine Absicht, sich an der Uni­ver­sität Basel zu habil­i­tieren, schlug dank des Wider­standes the­ol­o­gis­ch­er Geg­n­er fehl.

Nach ein­er Amerikareise 1907, die ihn an die Ostküste nach New York, Boston, Pitts­burg, Wash­ing­ton und Philadel­phia führte und ihn mit den Licht- und Schat­ten­seit­en der “Neuen Welt” in Berührung brachte, kam ein neues Beru­fungsange­bot, an der Uni­ver­sität Zürich als Pro­fes­sor der sys­tem­a­tis­chen und prak­tis­chen The­olo­gie zu wirken.

Als sein schar­fer Artikel in den “Neuen Wegen” gegen einen Schützen­festrum­mel mit seinem “Schiesskul­tus” und “Bum­bumpa­tri­o­tismus” zu ein­er eben­so schar­fen Ent­geg­nung in den “Basler Nachricht­en führte und auch eine Rei­he sein­er Fre­unde Unver­ständ­nis äusserte, war er inner­lich bere­it, das Ange­bot ern­sthafter zu prüfen:
Diese Erfahrung lock­erte wieder meine Beziehung zu Basel, ähn­lich wie jene Fast­nachts­geschichte, und machte mich empfänglich­er für die bald erfol­gende Beru­fung nach Zürich als Pro­fes­sor der sys­tem­a­tis­chen und prak­tis­chen The­olo­gie. Das Prob­lem der Annahme oder Nicht-Annahme der Wahl war dies­mal umso akuter, als ich mich zwis­chen den zwei Möglichkeit­en mein­er Exis­tenz, die bei­de ziem­lich gle­ich­mäßig in mein­er Natur liegen, entschei­den mußte: zwis­chen dem Pfar­rer und dem Pro­fes­sor, zwis­chen dem Prak­tik­er und dem The­o­retik­er, zwis­chen dem Kämpfer und dem Denker. Wieder trat jenes Moment ins Spiel, das mein Leben immer wieder so stark bes­timmt hat: wieder meinte ich, in der Beru­fung nach Zürich einen Ruf Gottes erken­nen zu müssen. Eigentlich wollte ich nicht. Ich fühlte mich trotz allem zu stark mit Basel ver­bun­den. … Aber wieder schien es mir, als ob ein Gotteszwang mich nötige, den Weg zu gehen, den mein Herz ver­warf. (…)
Ich habe den Weg­gang von Basel lange tief bereut, noch ungle­ich tiefer als den von Chur. Es war lange, lange eine Wunde in mein­er Seele, die immer wieder zu bluten anf­ing. (…)
Es war ein Fehler, vielle­icht eine Sünde. Und den­noch — es war der Weg Gottes mit mir. Den­noch muß ich dafür danken. Es war wieder eine felix cul­pa. 

Im Herb­st 1908 erfol­gte der Umzug nach Zürich.

Dazu mehr in der näch­sten Folge am kom­menden Sam­stag, den 20. Mai

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