Das alte Gottes­bild abzuschüt­teln ist gar nicht so ein­fach, “der alte Mann mit dem lan­gen Bart” ist länger in unserem Unter­be­wusst­sein lebendig, als uns lieb ist. Und trotz­dem ist dieser Schritt — wie Friedrich Niet­zsche** klar erkan­nt hat — drin­gend nötig. Hil­fre­ich dazu kann z.B. sein, sich klarzu­machen, dass der in der the­ol­o­gis­chen Lit­er­atur immer wieder zitierte “Jeho­vah” erstens eine falsche Lesung des Tetra­gramms “JHWH” ist, und es sich zweit­ens nicht um einen eigentlichen Namen, son­dern son­dern eher um eine “Formel” han­delt, die sich im kab­bal­is­tis­chen Lebens­baum, dem Sefirot­baum, wiederfind­et:
Die Got­theit fliesst wie das Wass­er, das aus einem unendlichen Ozean strömt, durch diese Kanäle und Gefässe (Sefirot). In ihnen tut sich die Got­theit dem Medi­tieren­den kund in ver­schiede­nen Qual­itäten und Stufen. Die Meta­pher des Ozeans versinnbildlicht das Ejn Sof. Das ist die Ursache jen­seits aller Ursachen, wed­er Sein noch Nicht-Sein. Ejn Sof — das “Ohne Ende”, “das Gren­zen­lose” — ist allum­fassend, alles durch­drin­gend, unnennbar, unvorstell­bar. … Man gelangt dor­thin durch die Kon­tem­pla­tion der Sefirot in ihren spez­i­fis­chen Qual­itäten und ihren kom­plex­en Beziehun­gen untere­inan­der. Dann wan­delt sich das Ganze in den Gottes­na­men JHWH — “Ursache aller Ursachen” — der durch­sichtig wird für die unsag­bare “Ursache jen­seits aller Ursachen”.
(Janos Dar­vas. Auf allen Wegen erkenne Ihn! p.93/94)
Darum wurde das Tetra­gramm im tra­di­tionellen Juden­tum nie aus­ge­sprochen, da heilig.

Auch das “Ehjeh asch­er ehjeh”, je nach Über­set­zung “Ich bin, der ich bin” oder “Ich werde da sein”, das Moses auf dem Berg Sinai aus dem bren­nen­den Dorn­busch ver­nahm, zeugt von “Gott” als ein­er dynamis­chen Gegenwart.

Ähn­lich­es gilt für das Jesus-Bild. Was ist mit ihm und sein­er Mis­sion, wenn die ganze Erb­sünde- und Opfer­the­olo­gie dank des Wan­dels des alten Gottes­bildes hin­fäl­lig wird?
Dass dieser Jeshua ben Joseph, der für die Chris­ten zu “Jesus Chris­tus” gewor­den, aber für die Juden ein Stein des Anstoss­es geblieben ist, in Palästi­na gelebt und gelehrt hat, darf als gesichert angenom­men werden.
Der amerikanis­che Reli­gion­swis­senschaftler Bart D. Ehrman hat zu diesem The­ma ein aus­geze­ich­netes Buch geschrieben, das die Beweise zusam­men­fasst (Did Jesus exist? The His­tor­i­cal Argu­ment for Jesus of Nazareth). Der His­torik­er Mark Smith sein­er­seits legt auf­grund der neuesten archäol­o­gis­chen Forschun­gen überzeu­gend dar, dass die Schilderun­gen der let­zten Tage und der Kreuzi­gung Jeshuas auf Fak­ten beruhen (The Final Days of Jesus .The Thrill of Defeat, The Agony of Vic­to­ry)

Wenn man bere­it ist, sich von altüber­liefer­ten Dog­men zu lösen, — etwa “Jesus ist der einzige Sohn Gottes” -, und sich wie Niet­zsche** mit seinem Lebenss­chif­fchen auf das offene Meer hin­auswagt, kann man anfan­gen, sich Fra­gen zu stellen, — zum Beispiel:
 Was tat Jesus in den vie­len Jahren, bevor er mit etwa 30 in Palästi­na an die Öffentlichkeit trat? Ver­schiedene Quellen sprechen von aus­gedehn­ten Reisen nach Ägypten, Per­sien und Indi­en, um sich auf seine Mis­sion vorzu­bere­it­en. Kön­nte doch dur­chaus Sinn machen.
Wie hielt es Jesus mit der Reinkar­na­tion? Die These, dass wir uns über viele Leben hin­weg immer wieder reinkarnieren, um uns Schritt um Schritt weit­er zu entwick­eln (Jesus: Darum sollt ihr vol­lkom­men sein, gle­ich­wie euer Vater im Him­mel vol­lkom­men ist. Matthäus 5.47), macht sehr viel mehr Sinn als die “Himmel/Hölle”-Geschichte, — sofern man überzeugt ist, dass unser Sein nach dem physis­chen Tod nicht für immer aus­gelöscht wird.
Schildern die vier Evan­gelien, die lange nach seinem Tod ver­fasst wur­den, getreulich, was Jesus lehrte? Oder müssten wir z.B. vielle­icht auch das Thomas-Evan­geli­um mit seinen 114 Logien zu Rate ziehen, das den offiziellen Evan­gelien mit grösster Wahrschein­lichkeit vorausging?

Die wichtig­ste und inter­es­san­teste Frage aber, weil das gesamte Chris­ten­tum darauf auf­baut, ist die Frage nach der Aufer­ste­hung Jesu nach sein­er Kreuzi­gung. Die Diskus­sio­nen, ob über­haupt, oder wenn ja, in welch­er Form und Weise, sind endlos.
Macht es über­haupt Sinn, heute noch von “Aufer­ste­hung” zu sprechen? Wer oder was soll “aufer­ste­hen”? Was soll unter “Aufer­ste­hung” ver­standen werden?
Dass wir irgend­wann nach einem lan­gen Grabess­chlum­mer wieder mit unserem jet­zi­gen Kör­p­er als Frit­zli Müller oder Vreneli Meier aus dem Grabe steigen wer­den und uns anschliessend einem göt­tlichen Gericht stellen müssen, wie es die Kirchen über Jahrhun­derte predigten? Oder hat “Aufer­ste­hung” einen anderen Sinn, z.B. dass wir schon in diesem Leben — und nicht erst nach dem Tod — aufer­ste­hen müssen/dürfen/können?

Eine der span­nend­sten Forschun­gen der let­zten Jahrzehnte dreht sich um das berühmte “Grab­tuch von Turin”, der Tra­di­tion gemäss das Tuch, in das der Kör­p­er Jesu nach seinem Tod am Kreuz einge­hüllt wurde. Darauf ist das Bild eines Mann mit mas­siv­en Folter­spuren und den Spuren ein­er Dor­nenkro­ne zu sehen. Wie das Bild in das Tuch eingeprägt wurde, ist seit Jahrzehn­ten Unter­suchungs­ge­gen­stand mehrerer hochkarätiger Forschung­steams ver­schieden­ster wis­senschaftlich­er Fachrich­tun­gen. Die bis heute einzige plau­si­ble Erk­lärung: Es ent­stand mit­tels eines unfass­bar mächti­gen, nur Mil­lisekun­den dauern­den “Energieblitzes”.

Inzwis­chen ist die Lit­er­atur dazu riesig. Die Geschichte der Erforschung des Tuchs und dessen Herkun­ft ist span­nen­der als jed­er Kri­mi. Eine der inter­es­san­testen Web­seit­en zum The­ma ist Shroud.com, inzwis­chen schon 13 Mil­lio­nen mal kon­sul­tiert. Ein schönes Beispiel, wie man sich heute ohne Scheuk­lap­pen wis­senschaftlich “aufs offene Meer” hin­auswagt!

** Eine hochin­ter­es­sante neue Inter­pre­ta­tion von Niet­zsches Werk gibt Kon­rad Diet­zfel­binger in seinem höchst empfehlenswerten Buch “Niet­zsches Erleuch­tung”. Aus dem Klappentext:
Niet­zsches Leben ähnelt einem spir­ituellen Weg, wie er zu allen Zeit­en gegan­gen wurde. Unter dem Motte “Werde, der du bist”, set­zte er sich mit Zustän­den und Kräften licht­ester und dunkel­ster Herkun­ft auseinan­der. Er erlebte nicht nur Erleuch­tun­gen, die zu wesentlichen Erken­nt­nis­sen führten, son­dern erlag auch immer wieder den Ver­suchun­gen zu Grösse und Macht, die solchen Erleuch­tun­gen wie Schat­ten dem Licht folgen.
Das erk­lärt sein ambiva­lentes Denken und seine ambiva­lente Wirkung. Den einen ist er Vor­bild als kom­pro­miss­los­er Wahrheitssuch­er, den andern dient er zur Legit­imierung frag­würdi­ger Herrschaftsinteressen.
Das Buch macht überzeu­gend deut­lich, dass die Ten­denz zum “titanis­chen Über­men­schen” nur Niet­zsches “Schat­ten”, nicht sein eigentlich­es Wesen war. Es zeich­net die Sta­tio­nen und Erfahrun­gen des spir­ituellen Weges nach, wie sie sich in den Werken des grossen Philosophen darstellen, und gibt dadurch einen zuver­läs­si­gen Inter­pre­ta­tion­ss­chlüs­sel an die Hand. Es wirft ein neues, erhel­len­des Licht auf Niet­zsches Ver­hält­nis zu Sokrates, Schopen­hauer, Wag­n­er, Jesus, zum Chris­ten­tum, zu sein­er Zeit — und vor allem zu sich selb­st. Und es verge­gen­wär­tigt sein Leben und Denken als exem­plar­isches Lehrstück für alle, die an der eige­nen spir­ituellen Entwick­lung arbeit­en wollen.

Nach diesem kleinen Exkurs kehren wir in der näch­sten Folge wieder zu Leon­hard Ragaz zurück, — und dies wie immer

am kom­menden Sam­stag, den 13. Mai.

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