Das Neue Tes­ta­ment gibt keine Anweisun­gen für die Gestal­tung der gesellschaftlichen Ver­hält­nisse, son­dern bloss für den Weg der Seele zum Heil, fasst Ragaz das bis heute gültige Cre­do des Main­stream-Chris­ten­tums zusam­men, und analysiert anschliessend besagtes Cre­do noch etwas genauer:
Die poli­tis­chen und sozialen Ver­hält­nisse besitzen, so hat man beson­ders in der neuesten Zeit erk­lärt, ihre „Eigenge­set­zlichkeit“, sit­tliche und religiöse Gesicht­spunk­te dür­fen darauf keine Anwen­dung find­en. Das Chris­ten­tum hat die Ret­tung der Seele allein im Auge. Das Chris­ten­tum verkündigt die Verge­bung der Sünde; das Reich Gottes aber ist etwas, was erst mit dem Welt­gericht und der Wiederkun­ft Christi kommt; erst wenn der alte Him­mel und die alte Erde im Feuer des Welt­gericht­es verzehrt sind, kön­nen der Neue Him­mel und die Neue Erde erscheinen.

So unge­fähr hat man gere­det und redet man zum Teil noch, in tausend Formeln, bald gläu­bi­gen, bald ungläu­bi­gen, bald pietis­tis­chen, bald lib­eralen. Immer ist das Ergeb­nis, daß die Neue Erde verkürzt wird. Wenn wir das Bild vom Reiche Gottes als von einem Strome wieder anwen­den, so kön­nen wir sagen: Dieser Strom, der gewaltige, die Rev­o­lu­tion Gottes durch Chris­tus, hat sich ver­loren, zum Teil in die Seele des einzel­nen Men­schen, zum Teil in den Abgrund ein­er ver­bor­ge­nen Inner­lichkeit, zum Teil in das Jen­seits des Todes, zum Teil in das Grab des Pes­simis­mus, zum Teil in die weit­en Hallen ein­er doch auch von Men­schen­hän­den erbaut­en Kirche, zum Teil in die Wüste ein­er Recht­gläu­bigkeit, die mehr den Kopf als das Herz berührte, zum Teil in die Irrgärten ein­er ver­weltlicht­en Kul­tur, die vor den Ansprüchen der Welt größeren Respekt hat­te als vor dem Rechte Gottes. Er geri­et in ein ganzes Delta von Kanälen» schwächte sich, ver­sumpfte, ver­lor seine Kraft der Weltumgestaltung.

Die Frage stellt sich heute mehr denn je: Ist mit diesem Chris­ten­tum über­haupt noch Staat zu machen!? Denn ganz abge­se­hen von der hier in aller Schärfe vor­ge­tra­ge­nen Kri­tik an der Welt­flüchtigkeit dieses Chris­ten­tums bröck­eln mit der Entwick­lung der wis­senschaftlichen Bibelkri­tik seit dem 19. Jahrhun­dert auch dog­ma­tis­che Gewis­sheit­en immer mehr ab:
Ist dieser Jeshua ben Joseph, für die Chris­ten “Jesus Chris­tus”, tat­säch­lich gekom­men, um uns mit seinem Tod am Kreuz von der Erb­sünde zu erlösen, — als “Opfer­lamm”, um uns mit Gott wieder zu ver­söh­nen? Gibt es über­haupt so etwas wie eine “Erb­sünde”?
Noch radikaler: Hat es diesen Jesus als his­torische Per­sön­lichkeit über­haupt gegeben, oder ist er lediglich ein Mythos, wie heute viele Bibelkri­tik­er monieren? Abge­se­hen davon: Was heisst denn eigentlich “Sohn Gottes” überhaupt?

Oder noch radikaler: Gibt es diesen “Gott”, dessen Sohn Jesus sein soll, überhaupt?
Friedrich Niet­zsche ist in der Öffentlichkeit heute vor allem mit seinem berühmt-berüchtigten Ausspruch “Gott ist tot” im Gedächt­nis geblieben. Wenn es keinen Schöpfer­gott gibt, kann das Chris­ten­tum zusammenpacken.
“Der Tod Gottes”, von Friedrich Niet­zsche vor anderthalb Jahrhun­derten verkün­det, lässt die Spuren des Göt­tlichen im kul­turellen Gefüge verblassen, ver­schwinden. Kirchen und Syn­a­gogen leeren sich. Religiöse Über­liefer­un­gen wer­den als inef­fek­tiv erlebt und als irrel­e­vant abge­tan. Dies als Tat­sache nicht zu akzep­tieren wäre unre­al­isi­tisch. (Janos Dar­vas. Auf allen deinen Wegen, erkenne Ihn!)

Und genau hier, wo wir defin­i­tiv in ein­er Sack­gasse gelandet zu sein scheinen, wird es inter­es­sant. Denn der Anthro­posoph und Kab­bala-Ken­ner Dar­vas fügt anschliessend hinzu, was Niet­zsche eben auch noch gesagt hat:
In der Tat, wir Philosophen und “freien Geis­ter” fühlen uns bei der Nachricht, dass der “alte Gott tot” ist, wie von ein­er neuen Mor­gen­röte anges­trahlt; unser Herz strömt dabei über von Dankbarkeit, Erstaunen, Ahnung, Erwartung, — endlich erscheint uns der Hor­i­zont wieder frei, geset­zt selb­st, dass er nicht hell ist, endlich dür­fen unsere Schiffe wieder aus­laufen, auf jede Gefahr hin aus­laufen, jedes Wag­nis des Erken­nen­den ist wieder erlaubt, das Meer, unser Meer liegt wieder offen da, vielle­icht gab es noch niemals ein so offenes Meer.” (Friedrich Niet­zsche, Die fröh­liche Wis­senschaft, Apho­ris­mus 343)

Die span­nende Frage ist natür­lich: Welche Ent­deck­un­gen gäbe es denn da zu machen, wenn wir das alte Gottes­bild tat­säch­lich abschüt­teln und uns mutig und freudig aufs “offene Meer” hinauswagen?

Dazu mehr in der näch­sten Folge am kom­menden Sam­stag, den 6. Mai

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